Geschrieben am 6. Mai 2015 von für Bücher, Litmag

Jörg Scheller und Alexander Schwinghammer (Hg.) Anything Grows. 15 Essays zur Geschichte, Ästhetik und Bedeutung des Bartes

scheller_Schwinghammer_GrowsBartwuchs aus zeitkritischer Perspektive

– Das fällt schon auf, wie viele junge Männer wieder volle Barttracht tragen. Auch in der Werbung tauchen sie auf: die Vollbärte, die ein Männergesicht komplett umranden oder sollte man eher sagen: umranken? Der Bart hat seit Beginn der Geschichtsschreibung Höhen und Tiefen, Wellen und Zäsuren, ja: Scherenterror erleben müssen. Von Dominik Irtenkauf

Die Frage, warum man sich mit Barthaar beschäftigen sollte, begrenzt sich vorwiegend auf die tägliche Morgentoilette. Dabei haben nicht nur Männer das „Problem“ des Bartwuchses. Nein, auch Frauen leiden (zumindest teilweise) an einem Gesichtshaarbewuchs. Kulturell macht das Frauen sicher mehr als Männern zu schaffen, für die der Bart – je nach Zeitepoche – gewisse soziale Rollen verfestigt und akquiriert. Die beiden Kunst- und Kulturwissenschaftler Jörg Scheller und Alexander Schwinghammer versammeln eine schreiberisch eloquente Schar um sich, die sich dem Gesichtshaar auf unterschiedliche Weise nähert.

Nun kann es öde wirken, wenn man stets Sprachspiele mit Bart anbringt, doch eine nur periphere Beschäftigung mit dem Bartwuchs zeigt, dass er innerhalb der Sprache semantisch ganz schön gewuchert hat. Die Herausgeber weisen im Vorwort darauf hin, dass „Anything Grows. 15 Essays zur Geschichte, Ästhetik und Bedeutung des Bartes“ nur einen kurzen Einblick gewähren kann. „Es fehlen, um nur einige wenige Desiderate zu nennen, die Sportlerbärte, die Schauspielerbärte, die Wissenschaftlerbärte, die Literaturbärte sowie fast alle Bärte aus anderen Weltregionen als die westliche.“

Dies liest sich beinahe wie eine Einladung, ins Buchregal zu greifen und auf den Backcovern die Autorenfotos auf Bart oder nicht Bart zu prüfen. Oder aber man nimmt die Anthologie nochmals zur Hand und studiert die Bartgeschichte seit Pharaonenzeit. Dabei fällt auf: der Bart wächst meist nicht nur einfach so – wenigstens Faulheit (zur Rasur) ist einzuberechnen. Mehr noch bei Personen des öffentlichen Interesses: warum trägt der Chef der Federal Bank der Vereinigten Staaten einen imposanten Bart? Die Presse macht sich ein Gedankenspiel daraus: wenn er sich den Bart schert, welchen Effekt hat das auf den Dollar als Weltwährung? Diese Frage ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Beat Wyss, seines Zeichens Kunstwissenschaftler, weist am Beispiel der Kleriker auf, welchen ideologischen Aussagewert ein Bartwuchs besitzt. „Ein Verbot des Barttragens wurde schon von Papst Gregor VII festgesetzt und unter Gregor IX im Jahr 1234 formell in die kanonische Sammlung der Dekretalen aufgenommen. Im Westen bedeutete die Bartlosigkeit des Priesters den Abschied vom weltlichen Leben als Mann, was sich im Zölibat bekräftigen sollte. Dass Bartlosigkeit sehr oft nur Etikettenschwindel war, belegt die Zeugungsfreudigkeit von Päpsten und Bischöfen bis hinab zu den Dorfpriestern. Es scheint, dass hinter der strengen Observanz der Rasur sich das Keuschheitsgelübde umso schamloser brechen ließ.“ Wyss legt ausführlich die Regularien der Neuzeit dar, was ein Bart im Mannesgesicht ausdrückte. Albrecht Dürer zum Beispiel nahm sich heraus, die Künstlerpersönlichkeit, die er war, auch im Gesicht auszudrücken. Er trug einen Bart, als dieser gar nicht angesagt war.

In der Gegenwart wird diese Bartfrage noch dringlicher: ist es möglich, als Manager einen Rauschebart zu tragen oder stellt man sich damit ins Abseits? Jan Füchtjohann bezweifelt eine Relation zwischen wirtschaftlichem Arbeiten und der Länge des Bartes: „Dass ein nacktes Kinn besser wirtschaftet als ein behaartes, ist doch eine zutiefst konventionelle, absurde und obsolete Idee. Darum fand es ein Blogger der US-Männerzeitschrift GQ auch völlig zu Recht lächerlich, als die Fashion & Style-Sektion der New York Times im Januar 2014 versuchte, den Bart zum neuen Mainstream zu erklären: ‚The beard, until recently the scruffy fashion statement of the plaid-shirt-and-craft-beer creative underclass, has lately been institutionalized, co-opted by The Man not only in the form of pinstripe-clad Beltway insiders, but by Wall Street titans, professional sport golden boys, Us Weekly cover boys and morning-show television hosts.‘“

Gegen Ende des Artikels nimmt er die zitierten Aussagen alle wieder zurück, indem er zum Schluss kommt: dem Kapitalismus ist doch letztlich egal, ob ein Mann Bart trägt oder nicht. Hauptsache ausreichend Geld im Portemonnaie.

bärtige Männer

Bartträger des späten 19. Jahrhunderts

Das Monster unter der Nase

Manche der Artikel sprechen Offensichtliches an, so wenn Benedikt Sarreiter „das Monster unter meiner Nase“ thematisiert. Klar ist, welchen Schnauzbart er unter seine Nase platziert. Keine Frage, dass er dabei von den Passanten angegafft wird. „Ein Bart bietet eine Angriffsfläche, Blicke verfangen sich, er lädt ein zu Interpretationen – Hippie oder Fundamentalist, Reaktionär oder Erol Flynn-Fan, der Verdacht des Nonkonformen ist ständiger Begleiter des Bartträgers.“ Wahre Worte. Wie höllisch muss ich bei jeder Morgenrasur aufpassen, nicht zu viel abzusäbeln, damit ich mich nicht ins gesellschaftliche Aus manövriere. Sarreiter ging dieses Wagnis ein und druckt das (etwas zu dunkel geratene) Foto auch just im Buch ab. Hut ab vor solch Wagnis!

Die 15 Essays zur Geschichte, Ästhetik und Bedeutung des Bartes gehen je nach Interesse auf verschiedene Weise mit der haarigen Angelegenheit um. Allen gemein ist die Frage, was denn nun im dichten Barthaar an Motiven verborgen sei. Nicht so sehr Themen, die durch die Bartpflege ins Gesicht des Mannes geschrieben werden, als vielmehr die Strategie, die hinter der bewussten Nonrasur steht. Verallgemeinerungen sind nette Versuche, ein wucherndes Etwas zu fassen, aber letztlich bleibt nur das Achselzucken von Asterix und Obelix, als im ersten Abenteuer „Asterix der Gallier“ der Centurio Gaius Bonus beinahe den Verstand verliert, als seine gesamte Legion von unkontrolliertem Haarwuchs befallen wird.

Der Versuch, eine wissenschaftliche, d.h. verallgemeinerbare Aussage über Bartwuchs und seine Ausformungen zu wagen, ist beinahe schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt: „Gerade in unserer zunehmend vollbärtigen Gegenwart lösen sich viele der postulierten Zusammenhänge zwischen Vollbärten, Differenz, Dissens und Avantgarde in unverbindlichem Rundumgewuschel auf. Ob Techno-DJ, Metal-Mucker oder Folk-Barde, ob heterosexuell, homosexuell oder metrosexuell, ob Fetischobjekt oder Gemütlichkeitsverstärker – der Vollbart, insbesondere der gestutzte und gepflegte, ist mehr denn je ein Accessoire unter vielen, seine Semantik weniger denn je verortbar. Die Frage lautet nicht mehr: warum ein Vollbart? Sondern: warum keinen Vollbart? Wem es wächst, der lasse wachsen.“ Ist mit einem Bart im Gesicht also kein Statement mehr möglich? Nun, ein ganz bestimmter, ein stark definierter Schnauzbart sorgt zumindest in unseren Breitengraden immer noch für die nötige Aufmerksamkeit. Doch gibt es außer dem Hitlerbärtchen noch einen Bart, der für Aufsehen sorgt?

Diese Frage könnte wohl bei sogenannten Bart-Wettkämpfen eine Antwort finden. In Mehrzweckhallen versammeln sich Männer (teils mit weiblichem Anhang), trinken Bier, essen Hausmannskost oder eine Bratwurst und warten auf ihren Auftritt vor einem Publikum von Bart-Connaisseurs. Sie treten in verschiedenen Preisklassen gegeneinander an: „Mittlerweile wird deutlich, dass bestimmte Kleidungsstile sich besonders gut für bestimmte Bartstile eignen. Einige Teilnehmer der Kategorie ‚Schnauzbart Kaiserlich‘ tragen Polizeiuniformen der Kaiserzeit, während fast alle Teilnehmer in der Kategorie ‚Kinn- und Backenbart: Chinese bzw. Fu Man Chu‘ bodenlange Gewänder und eine Rundkappe tragen, die alten stereotypen Darstellungen von Chinesen entsprechen. Die Kategorie ‚Vollbart: Oberlippe gestylt‘ scheint sich besonders gut für Kostüme zu eignen, die aus der Bilderwelt des Westerns beziehungsweise der historischen Fotografien der entsprechenden Zeit stammen.“ Letztlich zeigen solche Wettkämpfe die freie Kombinierbarkeit des gegenwärtigen Gesichts mit historischen oder fiktiven Bartformen. Die deutschen Bartclubs pflegen das Gesichtshaar sicher auch aus ästhetischen Gründen. Zudem werden die Möglichkeiten der eigenverantworteten Erscheinung ausgelotet: wie wirkt wohl ein Franz-Joseph-Bart neben dem Goatee des Grungers, der längst wieder zum historischen Kulturgut mutierte? Kann man mit jedem Bartstil in den Rockclub oder die Disko?

Barttypen

Vergänglichkeit des Zeitgeists

Der eigene Bart zeigt so gut wie kein anderes Merkmal die Vergänglichkeit des Zeitgeists. War der mitteldicke Schnäuzer in den 70ern noch Signifikant eines sexuell freizügigen Lebens, letztlich Verdachtsmoment einer allzu engen Verknüpfung mit dem Pornogewerbe, so wandelte er sich im Zuge der Retrobewegung zum (ehrlich direkt-rauen) Rock’n’Roll zum Porno-Chic, sprich: das Tragen war längst kein Stigma mehr, sondern modische Auszeichnung einer selektierten In-Gruppe. Einer Gruppe des männlichen Geschlechts, die durch den Schnurrbart ihre Ironiefähigkeit beweist. Zudem drückt ein Bart aus: stehe zu deiner Gesichtshaarpracht.

In einem Interview in der Sonntagszeitung vom 28.12.2014 räumte jedoch einer der Herausgeber, Jörg Scheller, ein, dass vorliegendes Buch aufgrund einer zunehmenden Bärtigkeit der Konferenzteilnehmer ein intellektueller Gegenschlag werden sollte, mit den Waffen der Analyse. Der Bart wird ernstgenommen, dann wiederum nicht. Nach Lektüre des Buches stellt sich heraus, dass eine Stellungnahme zum Bartwuchs (besonders für Männer) schwierig ist. Man weiß nicht, ob man lachen oder empört sein soll. Weil auf einmal so adrett gepflegte Bärte der haarigen Wildnis so deutlich und für alle sichtbar widersprechen!

Allan Peterkin, der bereits „14 Bücher für Erwachsene und Kinder [publizierte] und [d]arüber hinaus als Berater von Unternehmen aus der Rasierer-Industrie tätig ist“, führt erst gar nicht eine dezidiert wissenschaftliche Methodik an, sondern stattdessen die Bartmoden durch die Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.

Im Grundtenor wirft Schellers & Schwinghammers Buch erzählerisch thematische Schlaglichter auf das Gebilde im Gesicht der Männer (und ungewollterweise in denen der Frauen auch). Mal mehr, mal weniger wissenschaftlich angehaucht. Allen Beiträgen gemein ist die Lust am Beobachten und die Suche nach einer umfassenden Erklärung für die Verästelungen des körperlich lebendigen Artefakts. In diesem Sinne macht das Sachbuch Spaß. Leider – aber das wurde im Vorwort bereits eingeräumt – fehlen noch einige Haarspaltereien, zu denen der Bart einlädt. Ein Beispiel nur: Was hat es mit dem Mythos auf sich, Frauen würden keine bärtigen Männer küssen? In manchen Aufsätzen wurde das angerissen, aber eine befriedigende Auflösung dieser Legende steht noch aus. In der zweiten Volume dann?

Dominik Irtenkauf

Disclaimer: Der Autor trägt selbst seit Oktober 2013 einen mal mehr, einen mal weniger gestutzten Vollbart. Auffällig war vor allem, dass das Thema zu metaphorischer Sprache anregt. Das beweisen auch die veröffentlichten Essays.

Jörg Scheller und Alexander Schwinghammer (Hg.) Anything Grows. 15 Essays zur Geschichte, Ästhetik und Bedeutung des Bartes. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014. Foto 1: Wikimedia Commons, Quelle. Foto 2: Wikimedia Commons, Quelle, Autor: Roger Zenner

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