Geschrieben am 10. März 2012 von für Bücher, Crimemag

John Harvey: Pass auf dich auf

Wenn der schlimmste Alptraum wahr wird

John Harvey ist einer der „Masters of British Crime Fiction“ und ein von Lesern und Kritikern gleichermaßen geschätzter Kriminalautor. Seine literarische Meisterschaft stellt er mit dem 11ten Charlie Resnick-Roman „Pass auf dich auf“ wieder unter Beweis – findet Claus Kerkhoff.

Im neuen Charlie Resnick-Roman „Pass auf dich auf“ spielt der Autor John Harvey für seinen Protagonisten Charlie Resnick die männlichen Tyche und fügt ihm einen der schlimmsten, vorstellbaren Schicksalsschläge zu.

Charlie Resnick ist Detective Inspector in Nottingham, er ist ein guter Kriminalbeamter, einer, der Fälle aufklärt, weil er ein Bluthund ist. Karriere hat er trotzdem nicht gemacht, denn er ist immer noch nur Detective Inspector, obwohl er bereits Anfang sechzig ist und kurz vor der Pensionierung steht. Dafür war er zu sehr Einzelgänger und hatte immer wieder bei Vorgesetzten und Kollegen angeeckt. Über viele Jahre war er ein missmutiger, unglücklicher Mann, nachdem ihn seine Ehefrau verlassen hatte. Getröstet haben ihn seine Katzen und seine Liebe zum Jazz. Als er schon geglaubt hatte, auch den Rest seines Lebens alleine verbringen zu müssen, traf er Lynn Kellogg: Polizeibeamtin, als einzige Frau in seine Abteilung aufgenommen.

Sie war jung, deutlich jünger als er. Er verliebte sich in sie und zu seiner großen Verwunderung erwiderte sie seine Liebe. Er konnte sein Glück nicht fassen. Lynn Kellogg ist ebenfalls eine gute Kriminalbeamtin: Erfolgreich, erfolgreicher als er und er neidet es ihr nicht. Manchmal ist er eifersüchtig und registriert bitter die Kommentare, die den Altersunterschied zwischen ihm und Lynn thematisieren. Er ist heilfroh, als sie in eine Schießerei gerät und ihr die Bleiweste das Leben rettet. Doch ein junges Mädchen kommt dabei ums Leben. Angeblich hat Lynn das Mädchen als Schutzschild missbraucht und der Vater des Mädchens droht nun mit Rache.

„All die Jahre, in denen du allein gelebt hast, nachdem dieses Prachtexemplar von einer Ehefrau ihre Sachen gepackt hat und ausgezogen ist. (…) von der Zeit danach, wie du missmutig mit einem Pint dastandest und dich dann wie ein geprügelter Hund nach Hause geschlichen hast, um die verdammten Katzen zu füttern und eine Platte von dieser alten Jammertante zu hören. (…) Mir war nie klar, was Lynn an die gefunden hat, (…) es hat das Lächeln auf dein Gesicht zurückgezaubert und Schwung in dich gebracht. Sie hat dir eine zweite Chance gegeben, Charlie (…)“

Lynn Kellogg arbeitet noch an einem anderen Fall. Eine Prostituierte wird bedroht. Sie ist eine Zeugin, hat gesehen, wie Viktor Zoukas, ein Bordellbesitzer, eine andere Prostituierte erstochen hat. Jetzt wird ihr mit dem Tode gedroht, sollte sie bereit sein, vor Gericht auszusagen. Ein anderer Zeuge verschwindet spurlos. Lynn hilft der Frau, sich in London zu verstecken.

Daines ist Dienststellenleiter der SOCA. Er arbeitet an einem Fall, der mit internationalem Waffenhandel zu tun hat und in den Zoukas verwickelt ist. Er möchte die Zeugin ebenfalls befragen, aber Lynn traut ihm nicht. Die Zeugin erkennt Daines, aber Daines tut so, als ob er der Frau noch nie begegnet wäre. In welcher Beziehung steht Daines zu Zoukas?

Dann überschlagen sich die Ereignisse. Die Zeugin verschwindet kurz vor Prozesseröffnung spurlos und Zoukas kommt frei. Als Lynn Kellogg aus London heimkehrt, wo sie versucht hatte, die Zeugin zu finden, wird sie vor der Haustür erschossen. Für Charlie Resnick bricht eine Welt zusammen.

Tragisch

„Pass auf dich auf“ ist ein Meisterwerk: atmosphärisch dicht und eindringlich erzählt John Harvey von seinem Protagonisten, der in der späten Lebenshäfte sein Liebesglück gefunden hatte und dessen schlimmster Alptraum nun wahr geworden ist. Seine Liebste wurde erschossen, vermutlich von einem Täter, der in ihren Ermittlungsfällen auftaucht.

Andere Autoren würden Resnick zum Berserker werden lassen. Sie würden seine Trauer und seinen Schmerz in Wut und Rache umlenken, die ihn dann befähigen, den Mörder in einer außerordentlichen Anstrengung zu finden und zur Strecke zu bringen. Doch John Harvey tickt anders. Er schreibt keine Polizeiromane nach dem klassischem Muster Verbrechen – Ermittlung – Bestrafung des Täters. Im Mittelpunkt seiner Romane steht nicht die Kriminalhandlung selbst, sondern die Menschen und ihre Lebensumstände. Er beobachtet dabei genau, wie Menschen miteinander umgehen, sich wehtun und Beziehungen zerbrechen, wie die Umstände, in denen sie leben und aufgewachsen, ihren Charakter prägen und ihre Zukunftschancen bestimmen. In seinen Romanen zeigt er, welche Verletzungen an Seele und Geist Opfer, Angehörige und Täter erleiden, und wie diese Ereignisse die Figuren prägen und verändern.

John Harvey gibt Charlie Resnick Raum, sich der Trauer, dem Schmerz und der Wut auf den Mörder zu stellen. Er findet angemessene Worte, mit denen sein Protagonist glaubwürdig diese Gefühle durchlebt und Abschied von einer geliebten Person nimmt. Harvey zeigt eine große Empathie, lässt Resnick Gefühle zeigen, ohne seine Figur zu verkitschen. Hier zeigt sich die außerordentliche Qualität des Autors.

Die Ermittlungsarbeiten lässt Harvey von einer anderen Protagonistin seines Figurenensembles fortführen. Detective Chief Inspector Karen Shields, die uns bereits in der Frank Elder-Triologie begegnete, wird mit der Untersuchung des Mordfalls beauftragt. Weil die Tote Polizeibeamtin war, soll eine Auswärtige den Mordfall aufklären. Karen Shields steht dabei unter einem besonderen Druck, ihre Kompetenz als Polizeibeamtin unter Beweis zu stellen: Sie ist eine Frau und schwarz.

John Harvey verknüpft in seinen Geschichten Privates und Berufliches, wechselt zwischen Schauplätzen und Perspektiven und springt in der Zeit hin und her. Er erzählt seine Geschichte in kurzen, schlaglichtartigen Episoden, ohne Überleitungen. Er beherrscht dabei die große Kunst, viele Erzählstränge als ein homogenes Ganzes erscheinen zu lassen. Er breitet ruhig und überlegt die einzelnen Geschichten aus, konzentriert seine erzählerischen Mittel ganz auf die Entwicklung der Plots und verzichtet auf Effekthaschereien. Stetige Perspektivwechsel werfen neue Schlaglichter und treiben die Erzählung voran.

Es sind vor allem die Dialoge, in denen Harvey seine Figuren zum Leben erweckt. In ihnen zeichnet er seine Figuren, gibt ihnen unverwechselbare Charaktereigenschaften und erschafft dreidimensionale Charaktere, die Lebendigkeit und Vitalität ausstrahlen. Er gibt ihnen eine emotionale Tiefe, indem er den Leser mit wenigen Andeutungen erahnen lässt, durch welche Vergangenheit seine Figuren geprägt wurden. Er deutet lediglich an und der Leser muss die Zwischenräume ausfüllen.

Diese realistische Erzählweise, seine Verweigerung simpler Happy Ends und die große erzählerische Intensität, die uns mitnimmt, das Schicksal der Figuren mitzuerleben und mitzufühlen, zeigen die ganze Meisterschaft John Harveys.

Claus Kerkhoff

John Harvey: Pass auf dich auf (Cold in Hand, 2008) Roman. Deutsch von Sophie Kreutzfeldt. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2012. 432 Seiten. 9,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Homepage von John Harvey.

 

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