Geschrieben am 3. April 2006 von für Bücher, Litmag

John Irving: Bis ich dich finde

(K)ein Fall von melancholischer Logorrhö

Zugegeben: John Irvings elfter Roman, „Bis ich dich finde“, ist lang – mit 1140 Seiten in der deutschen Ausgabe sogar sehr lang. Und er hat – gerade im ersten Teil, der die Odyssee der Hauptfigur Jack Burns als kleiner Junge an der Hand seiner Mutter durch Europa schildert – durchaus seine Längen. Doch die Leser, die bereit sind, John Irving durch die Lebensgeschichte seiner Hauptfigur zu folgen, werden belohnt werden: Mit einer prallen, psychologisch dichten Geschichte über Liebe und Verlust, über Hoffnung und Betrug, über Wahrheit und Lüge. Von Petra Vesper

Eingefleischte Irving-Leser finden hier auch diesmal wieder jene für ihn so typische Fülle von schrägen Charakteren, atemberaubende Volten in der Handlung und einen ganz eigenen Humor, der sich oft gerade in den dunkelsten Momenten zeigt. Ein melancholischer Grundton durchzieht diesen Roman, der von der lebenslangen Suche eines Sohnes nach seinem Vater erzählt – und nicht zuletzt auch von einer Suche nach sich selbst.

Wer ist Jack Burns?

Wer ist Jack Burns? „Laut seiner Mutter war Jack Burns bereits ein Schauspieler, bevor er Schauspieler wurde…“ Mit diesem ersten Satz führt Irving seine Leser gleich auf eine falsche Fährte. Denn genau wie Jack als junger Mann lernen wird, dass die Erinnerungen eines Kindes trügerisch sind und man den Erzählungen seiner Mutter Alice nicht unbedingt trauen kann, so muss auch der Leser lernen, die Dinge zu hinterfragen. Sein Vater William, ein begnadeter Kirchenorganist, leidenschaftlicher Sammler von Tattoos und notorischer Frauenheld, habe sich noch vor seiner Geburt abgesetzt: Mit dieser Behauptung seiner Mutter wächst Jack Burns auf. Seine Kindheit ist geprägt von einer rastlosen Reise mit seiner Mutter durch Nordeuropäische Hafenstädte, Tattoo-Shops und Kirchenschiffe, immer auf der Spur seines Vaters. Mehr Ruhe kehrt erst in Jacks Leben ein, als er eingeschult wird: Als einer der ersten und wenigen Jungen besucht er eine bis dato reine Mädchenschule. „Bei den Mädchen sei er sicher“, befand Alice. Noch einer dieser Irrtümer, denn schon als kleiner Junge übt Jack einen eigentümlichen Reiz auf ältere Mädchen und Frauen aus, während auch er eine frühe Zuneigung zum weiblichen Geschlecht entwickelt. Mit einem Missbrauch durch eine weit ältere Frau wird diese sexuelle Prägung später zementiert.
Gleich an seinem ersten Schultag lernt Jack jenes ältere Mädchen kennen, das fortan sein Leben begleiten wird: Zwischen dem fünfjährigen Jack und der zwölfjährigen Emma Oastler entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, die – obwohl vordergründig asexuell, dennoch sexuell aufgeladen – weit über den Tod hinaus geht. Emma ist sicherlich die sympathischste, vielschichtigste und berührendste Figur des ganzen Romans. Mit ihr festigt Irving erneut seinen Ruf als ein Autor, der es wie kein zweiter versteht, sich in die Psyche von Frauen hinein zu versetzen.

Projektionsfläche für Wünsche und Träume anderer

Jack hingegen scheint zu verschwinden, sich aufzulösen, je älter er wird. Er ist eine Art „hollow man“, eine Projektionsfläche für Wünsche und Träume anderer, während er selbst zum großen Abwesenden wird. Als gefeierter Hollywood-Star definiert er sich ausschließlich über seine Rollen. Berühmt wird Jack vor allem durch seine Verkörperung von Frauenrollen: So sehr bemüht er sich darum, jemand anderer zu sein, dass er sich sogar in Pumps und Rock wohler fühlt als in seiner eigenen Haut. Und immer ist da jener „eine“ Zuschauer, für den er spielt: der abwesende Vater.
Kein Wunder also, dass Jacks Leben vollends aus der Bahn geworfen wird, als er peu à peu erfährt, welches Lügengebilde seine Mutter errichtet hat.
Hilfe findet der erwachsene Jack Burns erst durch eine Psychotherapeutin, die ihn dazu zwingt, ihr sein Leben zu erzählen: „Beginnen Sie mit dem, was sie anfangs für ihre Erinnerungen hielten. Und versuchen Sie, nicht weiter vorzugreifen, als es unbedingt nötig ist.“ Manchmal, so lesen wir, „hatte Jack das Gefühl, er gehe nicht zu einer Therapeutin, sondern nehme an einem Kurs für kreatives Schreiben teil.“ Man ahnt es schon: Diese Lebensbeichte Jacks ist nichts anderes als dieser Roman, der seinen Titel „Bis ich dich finde“ der Tätowierung auf der Brust seiner Mutter verdankt. Über diesen Umweg wird Jack zu einem Schriftsteller: „Ein Geschichtenerzähler, der sich der mündlichen Form“ bedient, „wenn auch einer, der an melancholischer Logorrhö litt“.

Parallelen zwischen Realität und Fiktion

Viel ist bei Erscheinen von „Bis ich dich finde“ über die autobiographischen Bezüge zu seinem Schöpfer spekuliert worden. Beigetragen dazu hat John Irving selbst, der in Interviews freimütig über seinen abwesenden Vater und den selbst erlebten sexuellen Missbrauch gesprochen hat. Tatsächlich lädt der Roman geradezu dazu ein, Parallelen zwischen Realität und Fiktion zu ziehen und nicht zuletzt können gerade die Kapitel, die Jacks Hollywood-Karriere erzählen, als „Schlüsselroman“ über die Hollywood-Filmmaschinerie gelesen werden. Dennoch: Wer „Bis ich dich finde“ ausschließlich als verkappte Autobiographie liest, beraubt sich selbst der Freude an diesem großen, epischen Tableau. John Irving sieht sich als Schriftsteller in der Tradition eines Charles Dickens, schätzt Zeitgenossen wie Gabriel Gárcia Márquez oder Salman Rushdie, vertraut auf einen ausgeklügelten Plot, starke Charaktere und einen Detailreichtum, wie man ihn fast nur noch bei Geschichtenerzählern dieser alten Schule findet. Von sich selbst sagt Irving, er sei Handwerker, kein Künstler. Und tatsächlich hat auch sein elfter Roman keinerlei Ambitionen, das literarische Genre des Romans neu zu erfinden. Was er liefert, ist große Handwerks-Kunst, im besten Sinne des Wortes. Für die amerikanische Literatur ist John Irving das, was Bruce Springsteen für die amerikanische Rockmusik verkörpert: Beide sind großartige Geschichtenerzähler, die ihr Handwerk beherrschen. Das ist nicht neu, aber immer wieder gut. Und so schnell macht ihnen das keiner nach…

Petra Vesper

John Irving:Bis ich dich finde.Deutsch von Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl.Diogenes Verlag,1140 Seiten, 24,90 Euro