Geschrieben am 17. Dezember 2014 von für Bücher, Litmag

Jonathan Franzen (mit Paul Reitter und Daniel Kehlmann): Das Kraus-Projekt

U1_XXX.inddIdealisierung des großen Hassers: Ein krauses Projekt?

Wer liest heute noch Karl Kraus, wer will schon den Mythos vom egomanischen, hyper-polemischen „Fackel“-Herausgeber in diesen Facebook-Google-Twitter-Zeiten wiederbeleben? Ausgerechnet der amerikanische Bestseller-Autor Jonathan Franzen hat sich auf das kontroverse „Kraus-Projekt“ eingelassen Von Peter Münder

Der „Korrekturen“-Bestseller-Autor Jonathan Franzen beschreibt seinen nostalgisch verklärten „Blick zurück mit Karl“ im Stil eines Denkmalpflegers, der Risse, Löcher und Einsturzgefahren einer adretten Fassade beflissen ignoriert, weil dies seiner idealisierten Projektion eines Wunderbaus widerspricht. Franzen hatte sich 1982 als Student und Fulbright-Stipendiat in Berlin intensiv mit Kraus (1874-1936) beschäftigt und die beiden hier diskutierten Traktate über „Heine und die Folgen“ und „Nestroy und die Nachwelt“ sogar ins Englische übersetzt. Er initiierte 2013 zusammen mit Daniel Kehlmann („Vermessung der Welt“) und dem Germanisten Paul Reitter das „Kraus-Projekt“ – eine Art assoziativ operierendes Brainstorming über diese Kraus-Essays. Diese Session kreist neben einigen analytischen Betrachtungen über Kraus und sein Werk vor allem um Franzens Beschwörung der guten alten apokalyptisch anmutenden Kalten Kriegszeit im geteilten Berlin und bunten Szenen aus dem tristen Studentenleben des angehenden Autors als vereinsamter junger Kotzbrocken.

Faszinierend ist dieses Projekt in mehrfacher Hinsicht: Als Buch ähnelt es sehr den spontan in social networks abgesonderten Reaktionen, weil die oben auf der Seite gedruckten Kraus-Texte in den unten kommentierten Fußnoten von Franzen, Kehlmann und Reitter sich zum spannenden, streckenweise auch kontroversen Gruppengespräch ausweiten („was zum Teufel hat er damit gemeint?“). In der Diskussion läuft die Kraus-Debatte auf eine Arbeitsteilung des Trios hinaus: Die nostalgisch verklärte Heldenverehrung übernimmt Franzen, die historisch-philologischen kritischen Anmerkungen besorgt Reitter, während der brillante Kehlmann sich gelegentlich auch als Querdenker betätigt und kritische Einwände gegen den vermeintlichen Seher und Propheten aus Wien vorbringt.

Oft driftet Franzen jedoch ab in banale Gewässer: Seine Überlegungen zu Thomas Pynchon, über die Lese-Allergie lethargischer Berliner Studenten, zum Twitter-Habitus von Salman Rushdie, den er wegen dessen übertriebener Twitterei kritisierte und von ihm prompt als „elitär“ bezeichnet wurde – all das hat mit Karl Kraus zwar wenig zu tun, vermittelt aber immerhin einen faszinierenden Einblick in Franzens Denke und in seine Welt.

Unkritischer Personenkult

Aber der Knackpunkt ist mal wieder ein hermeneutischer: Denn der Wiener Publizist wird a priori als Säulenheiliger verehrt, nie als fragwürdige mediale Leitfigur in Frage gestellt, sondern sozusagen als neu entdeckter Publizistik-Guru verehrt. Nach dem Motto: „Nie war er so wertvoll wie heute“ soll uns Karl Kraus dabei helfen, aus dem von Dumpfbacken-TV, Internet, Facebook und Smartphone-Reflexen generierten diffusen Nebel wieder herauszufinden. Was natürlich Unsinn ist, weil dieser völlig unkritisch aus dem 19. Jahrhundert übernommene Personenkult antisemitische Hasstiraden, persönliche Rache- und Vernichtungsfeldzüge des Polemikers Kraus unterschlägt und daher nur peinlich wirkt. Außerdem mutet es ziemlich engstirnig an, wenn das Interpreten-Trio sich nur deswegen auf die läppischen Heine-Invektiven und die simple Nestroy-Lobhudelei konzentriert, weil Franzen sich damals als Germanistik-Student mit diesen Arbeiten beschäftigte. Sein offenbar brillantes Referat an der FU Berlin hatte Franzen damals über den Streit zwischen dem „Optimisten“ und dem „Nörgler“ im großen, aber unaufführbaren Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ (mit ca. 800 Personen und mehrtägiger Aufführungsdauer) gehalten, wofür er das große Lob des Dozenten einheimste: „Es mußte erst ein Amerikaner kommen, der uns Deutschen erklärt, was es mit Kraus wirklich auf sich hat“.

Das kommentiert Franzen im „Kraus-Projekt“ rückblickend in seiner Fußnote: „Es war einer der glücklichsten Momente in meinem Leben“. Diese Begeisterung für Autoren und Literatur des „alten“ Europa, die bei Franzen immer wieder durchscheint, ist jedenfalls ein großes Faszinosum dieses Projekts.

Der prickelnde Mix aus Text-Analyse und tagebuchartiger Blogger-Nabelschau, extensiv in seitenlangen Fußnoten elaboriert, ist von einer geradezu skrupellosen Ehrlichkeit und offenen Selbstironie und entlarvt auch Franzens eigene psychische Labilität während einer kritischen Phase. Da ist einmal seine Isolation als einsamer grübelnder Schreiber, als Verlobter ohne Braut – die ist in den USA geblieben, um an der Columbia University zu studieren. Und er ist auch konfliktscheuer Sohn, der sich davor ängstigt, seinen Eltern reinen Wein über seine wahren beruflichen Absichten einzuschenken. Er hatte sich ja gerade entschlossen, Schriftsteller zu werden, ließ seine ihn finanzierenden Eltern aber im Glauben, später einen „soliden“ Beruf ergreifen zu wollen. Seine Erinnerungen an die Zeit im geteilten Berlin, als Franzen sich während eines Reagan-Besuchs und einer dementsprechend anti-amerikanischen Stimmung kaum als Amerikaner outen konnte, sind ganz einfach die eines „Angry Young Man“.

Ein diffuser Zorn auf die Welt an sich, das System, die anderen Studenten, die meistens nur blöde Banalitäten absondern, hat ihn nachhaltig erfasst. Ist er nicht ein Auserwählter, zum Verfassen großer Werke berufen? Und wieso wird er dann von allseits präsenten tumben Analphabeten daran gehindert? John Osborne, der erste britische hauptberufliche Angry Young Man (Autor von „Look Back in Anger“, 1956), hatte es in Tagebüchern mal so formuliert: „It´s difficult to soar like an eagle when you are surrounded by turkeys“ – der Adler kann einfach nicht frei am Himmel segeln, wenn er von lauter Truthähnen umzingelt ist – genau!

Keine Meta-Ebene im Visier, sondern nur sich selbst

Den zornigen Propheten, Essayisten und Medienkritiker Kraus erkor Franzen während dieser Berliner Studentenphase zum Trost spendenden Mentor: Dessen vernichtender, auf phrasendreschende Reaktionäre gerichteter Bannstrahl konnte ihn in depressiven Phasen aufmuntern und darin bestärken, seine Schreibübungen und das mühsame Abarbeiten an Texten von Thomas Pynchon fortzusetzen.

Diese immer noch spürende Begeisterung für den Zeitkritiker Kraus bestärkt Franzen auch in der Ansicht, der Fackel-Herausgeber sei heute noch aktuell und irgendwie auch unser Zeitgenosse. Da reibt man sich jedoch verwundert die Augen – denn Kraus hatte nie eine Meta-Ebene im Visier, sondern nur sich selbst. Ging es um Sprachkritik, Klatsch und Häme in der Tagespresse, dann war sie sofort auf einzelne Journalisten oder auf seinen Intimfeind, den korrupten, in kriminelle Machenschaften verwickelten Zeitungsverleger Emmerich Bekessy gerichtet, den er mit einer publizistischen Kampagne tatsächlich mit Schimpf und Schande aus Wien verjagen konnte. Als Twitter- oder Facebook-User kann man sich Kraus wahrlich nicht vorstellen, zum Smartphone würde er heute wohl nur greifen, um den Staatsanwalt für das Durchsetzen einer einstweiligen Verfügung zu mobilisieren. Und in Debatten über die Zukunft von Print-oder Online-Journalismus würde sich Kraus wohl auch nicht einmischen – eher in Verleumdungskampagnen, die den Ruf und die Existenz einzelner Personen ruinieren. Wie Franzen in seinen Fußnoten anmerkt, hatte Kraus auch kein Interesse an Romanen. Aber das lag eben auch daran, dass er als Fackel-Autor wegen der permanenten Kolumnen-Schreiberei und seiner vielen öffentlichen Auftritte als Rezitator kaum zum Lesen längerer Texte kam.

Auch die Freud-Kritik von Kraus („Psychoanalyse ist die Krankheit, die sie zu heilen vorgibt“) hatte Franzen damals in Berlin übernommen; außerdem möchte er die Rundum-Medienkritik des Wieners mit seiner eigenen Aversion gegen Smartphones, Twitter und TV-Verdummung kombinieren. Doch die Berufung auf den kritischen Fackelträger blendet konsequent die Schwächen des fundamentalistischen Polemikers aus, der sich nicht entblödet, ausgerechnet den lässig-eleganten, kritischen Stilisten und Satiriker Heine als dubioses Feindbild, nämlich als Vorreiter eines schludrig-oberflächlichen Journalismus und als Symptom des kulturellen Niedergangs einer Epoche aufzubauen: „Seine Dichtung wirkt aus dem romanischen Lebensgefühl…sie ist die große Erbschaft, von der der Journalismus bis zum heutigen Tage lebt, zwischen Kunst und Leben ein gefährlicher Vermittler, Parasit an beiden, Sänger, wo er nur Bote zu sein hat, meldend, wo zu singen wäre, den Zweck im Auge, wo eine Farbe brennt, zweckblind aus Freude am Malerischen, Fluch der literarischen Utilität, Geist der Utiliteratur“. So bastelt sich Kraus aus einer flüchtigen Stilkritik eine grundsätzliche Ideologiekritik.

Rücksichtsloser Säuberer

Kraus entfaltete immer dann seine kritische Durchschlagskraft, wenn er Exzesse, modische Strömungen und abartige neue Trends geißelte wie etwa den zum Hedonismus tendierenden perversen Zeitgeist, der sich im Schlachtfeld-Tourismus zu den Schauplätzen des ersten Weltkriegs (Sektfrühstück inklusive) manifestierte, was er in der Fackel (November 1921) als „Reklamefahrten zur Hölle“ sarkastisch so kommentierte: „Sie bekommen unvergeßliche Eindrücke von einer Welt, in der es keinen Quadratzentimeter Oberfläche gibt, der nicht von Granaten und Inseraten durchwühlt wäre“.

Unerträglich war Kraus jedoch immer dann, wenn sein Vernichtungs- Furor sich auf Personen richtete, die er als Rivalen ausgemacht hatte, wie etwa den scharfsinnigen Theaterkritiker Alfred Kerr. Der hatte sich während des Ersten Weltkriegs zu chauvinistisch-militaristischen Parolen hinreißen lassen, von denen er sich auch nicht distanzierte, als Kraus ihn immer wieder dazu aufforderte. Grotesk war ja auch der massivem Protest des Juden Kraus, der heimlich zum Katholizismus konvertiert war, dann aber aus der Kirche austrat, weil man Max Reinhardt für eine Inszenierung des Salzburger großen Welttheaters einen Kirchenraum zur Verfügung gestellt hatte. Kraus war früher mit Reinhardt befreundet gewesen und fand es offenbar degoutant, dass der große Theatermann allmählich prominenter geworden war als er selbst.

Seine publizistische Vision, die er mit seinem Magazin realisieren wollte, hatte Karl Kraus schon in der ersten Nummer der „Fackel“ von 1899 beschrieben: Er wollte den „Phrasensumpf“ der zeitgenössischen Presse austrocknen. Der Groß-Rezitator und „Anti-Journalist“ ging dann allerdings bei seinen kritisch-sarkastischen Trockenlegungs- und Säuberungsarbeiten so rücksichtslos vor wie ein „Tatortreiniger“: „Voll auf die Presse“ – vor allem auf die verhasste „Neue Freie Presse“ – war nämlich bald seine Devise geworden.

Über weite Strecken enttäuschend

Das „Kraus-Projekt“ liefert eine Menge Ambivalenzen des Eindeutigen: Es ist spannend, wenn es sich mit der Trockenlegung des Phrasensumpfes durch den Wiener Sprachartisten beschäftigt. Es ist auch faszinierend, wenn Franzen seine Berliner Studentenzeit und seine damaligen labilen Phasen Revue passieren lässt. Es ist aber über weite Strecken enttäuschend, weil die ausgewählten beiden Essays, auf die sich Franzen kapriziert, einen eher marginalen Stellenwert im Kraus-opus einnehmen und der viel bedeutendere Aufsatz „Sittlichkeit und Kriminalität“ ausgeblendet wird.

In seinem großen, von Franzen nicht erwähnten Kraus-Essay (von 1931) hatte Walter Benjamin erkärt: „ Man versteht nichts von diesem Manne, solange man nicht erkennt, daß mit Notwendigkeit alles, Sprache und Sache, für ihn sich in der Sphäre des Rechts abspielt. Seine ganze feuerfressende, degenschluckende Philologie der Journale geht ja ebensosehr wie der Sprache dem Recht nach. Man begreift seine „Sprachlehre“ nicht, erkennt man sie nicht als Beitrag zur Sprachprozeßordnung, begreift das Wort des anderen in seinem Munde nur als corpus delicti und sein eigenes nur als das richtende. Kraus kennt kein System. Jeder Gedanke hat seine eigene Zelle. Aber jede Zelle kann im Nu, und scheinbar durch ein Nichts veranlaßt, zu einer Kammer, einer Gerichtskammer, werden, in welcher dann die Sprache den Vorsitz hat“.

Die idiosynkratische Funktionsweise dieses von der hohen „Sprachgerichtskammer“ praktizierten Verfahrens wird im Fußnoten-Blog des „Kraus-Projekts“ jedoch kaum gewürdigt.

Peter Münder

Jonathan Franzen (unter Mitarbeit von Paul Reitter und Daniel Kehlmann): Das Kraus-Projekt. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Rowohlt 2014. 301 Seiten. 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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