Inszenierte Wirklichkeiten
– Wie wirklich ist unsere Wirklichkeit noch und wer schreibt das Drehbuch unseres Lebens wirklich? Diesen Fragen spürt Jonathan Lethem in seinem neuen Roman „Chronic City“ nach und nimmt die Leser mit auf einen grenzüberschreitenden Trip durch die Kulissen Manhattans und seiner Schickeria aus Reichen, Schönen und subversiven Quertreibern. Von Karsten Herrmann
Nach seinen großartigen Brooklyn-Hommagen „Motherless-Brooklyn„ und „Die Festung der Einsamkeit“ erweist sich der gebürtige New Yorker einmal mehr als avancierter Chronist seiner Heimatstadt: „In Manhattan zu leben bedeutet, ständig darüber zu staunen, wie viele Welten hier ineinander verschachtelt sind, mit welch chaotischer Komplexität sie sich verschränkten.“
Lethems Ich-Erzähler Chase Insteadman hat in Manhattans Upper East Side mit ihren Partys und ihrem Klatsch eine durch reichlich Tantiemen gesicherte Stellung als ehemaliger Fernsehkinderstar. Gesteigert wird der gesellschaftliche Rang dieses charmanten „Mann ohne Eigenschaften“ durch seine Verlobte Janice, einer im Orbit gefangenen Astronautin, an deren Schicksal die Nation gierigen Anteil nimmt. Chase’ dahintrudelndes Leben nimmt eine Wendung, als er Perkus Tooth kennenlernt, einen exzentrischen Intellektuellen und Kunstkritiker, der in seinen altmodischen Anzügen eine schildkrötenhafte Erscheinung abgibt und von Cluster-Kopfschmerzen geplagt wird.
Faszinierendes literarisches Kaleidoskop
Perkus’ Appartement in Manhattan wird, unterstützt durch ein breites und reichlich genutztes Sortiment an Gras und Dope, zu einem „heiligen Diorama der Möglichkeiten und Begegnungen“. Hier taucht Chase ein in eine Welt des Independentfilms, der Rockmusik, der schrägen Theorien und Dekonstruktionen. „Perkus Tooth handelte mit okkultem Wissen und maß mit geheimem Zirkel.“ Hier kommt Chase auch in Berührung mit „Yet Another World“, einer „Pixel-Paraphrase der Realität“, und macht mit Perkus und seinem Freund Richard Abneg gemeinsam Jagd auf das Kaldron, eine Art bewusstseinserweiterndes Kunstobjekt, eine nicht zu fassende Schimäre zwischen Sein und Schein.
Mit einem meisterhaften sprachlichen Feuerwerk und aberwitzigen Einfällen am laufenden Band schafft Jonathan Lethem in seinem neuen Roman ein Spiegelkabinett der Wirklichkeiten, in denen sich nicht nur Chase Insteadman, sondern auch der Leser zunehmend zu verlieren droht. Was hat es etwa mit dem im Untergrund New Yorks sein Unwesen treibenden Tiger auf sich, der auch ein außer Kontrolle geratener Tunnelbohrer sein könnte und der schließlich Perkus wohnungslos und zum Mitbewohner eines liebestollen dreibeinigen Bullterriers macht? Und welche Rolle spielt die geheimnisvolle Ghostwriterin Oona Laszlo, die eine Affäre mit Chase beginnt und ein Buch über einen Avantgardekünstler schreibt, der New York mit mysteriösen Kratern und Fjorden durchzieht?
„Chronic City“ ist ein ebenso faszinierendes wie irritierendes literarisches Kaleidoskop. Neben dem schon klassisch postmodernen Spiel mit den Wirklichkeiten und (pop-)kulturellen Versatzstücken, bietet dieser Roman eine schräg-spöttische Persiflage auf die sinnentleerte New Yorker High Society und zugleich einen leisen Abgesang auf kritisch-subversive Charaktere wie Perkus Tooth: „Auch nur zu versuchen, die Fälschung absolut vom Wirklichen zu trennen, war eine Torheit.“
Karsten Herrmann
Jonathan Lethem: Chronic City. Aus dem Amerikanischen von Johann Christoph Maass und Michael Zöllner. Stuttgart: Tropen Verlag 2011. 494 Seiten. 24,95 Euro.
Zur Homepage von Jonathan Lethem. Im Buch blättern können Sie hier.