Letzte Runde
–Wolfram Schütte über Jorge Sempruns „Überlebensübungen“.
Aus dem Nachlass des 2011 in Paris im hohen Alter von 88 Jahren gestorbenen Jorge Semprun stammt das Fragment „Überlebensübungen“. Man muss seinem deutschen Verlag dankbar sein, dass er auch diese „letzteste“ (Goethe) seiner autobiographischen Fiktionen, mit denen der Resistance-Kämpfer, Buchenwald-Häftling & antifrankistische Agent als Schriftsteller berühmt & bekannt wurde, in der tadellosen Übertragung Eva Moldenhauers deutschen Lesern nun vorlegt. Das nennt man: Autorenpflege & spricht für die Qualität des Verlags.
Denn diese eineinhalb Erzählungen, an denen Semprun, wie aus einer Bemerkung erkennbar, seit 2005 geschrieben hat, sind ein literarisch-existentieller Kehraus. Dessen subtile Anspielungen können nur die Kenner seiner autobiographischen Bücher & nur jemand entschlüsseln, der sich in der europäischen Nachkriegsgeschichte auskennt. Auch dieses letzte seiner Bücher schrieb er wie alle vorher: als Montage von Episoden aus unterschiedlichen Zeiten & als erzählende Reflexion.
Allerdings streift der versierte literarische Cutter in diesem letzten Versuch, sein ebenso außerordentliches wie geglücktes Leben zum ultimativen Mal darzustellen, gelegentlich auch die Selbstparodie. Z.B. wenn er einem Resistance-Mitverschworenen beim ersten Treffen „aus Intuition“ auf den Kopf zusagt haben will, dass der Unbekannte „ein Leser von Joseph de Maistre“ & „in der Poesie ein Verehrer von Patrice de La Tour du Pin“ sei – was allein ja schon ein vollmundig-tolles Stück wäre. Aber dass der späte Semprun den so „Erkannten“ auch noch „übrigens nicht schlecht“ ein Gedicht des mystischen katholischen Dichters zitieren & den jungen Semprun das Zitat souverän fortsetzen lässt – ihn also als intimen Kenner ausweist, der auch noch das Gedicht auswendig kann! –, offenbart eine außergewöhnlich exquisite Bildung der beiden Resistancekämpfer; zu guter Letzt lieben sie auch noch beide eine junge Frau mit dem Namen „Laurence“ (wie das Gedicht offenbar heißt), wenngleich Semprun diese Namens-Koinzidenz nicht noch weiter führt. Sie lässt ihn nur zu der Bemerkung abschweifen, dass er seine kurzzeitige Geliebte dieses Namens damals, im Frühjahr 1943 (!), während einer Vorstellung von Racines „Bérénice“ in der „Comédie-Francaise“ kennenlernte – als die Schauspielerin der Titelheldin „weit über das Alter der Rolle hinaus war, aber wunderbar die Alexandriner sprach“.
Kultiviertheit inmitten der Nazi- & KZ-Barbarei
Der intellektuelle Großbürger Jorge Semprun hat schon früher in seinen großen Lebens-Romanen immer wieder seine Kultiviertheit inmitten der Nazi- & KZ-Barbarei & gegen sie ins Feld geführt. Ihm sind, denkt man im Nachhinein, dabei (z.B. in „Was für ein schöner Sonntag!“) ebenso unvergessliche wie aber auch prekär-opernhafte Erzählmomente gelungen, die sich in der Nähe des Kitschs befinden.
Neben der Kultur – seine Hegel-Lektüre in der Bibliothek von Buchenwald! – ist es das Pathos der Brüderlichkeit, das ihm aus der Trinität der Zielvorstellungen der Französischen Revolution am Kostbarsten erscheint. Zweimal erwähnt er in „Überlebensübungen“ eine männliche Hand, die sich dem jungen wie dem alten Semprun auf die Schulter legt: als Zeichen der menschlichen Verbundenheit & der Solidarität.
Diese früh in der Resistance, im KZ, im spanischen Untergrund immer wieder erfahrene Brüderlichkeit obsiegte jene Erfahrung der Folter, welche für Jean Améry ein für alle Mal sein „Weltvertrauen“ vernichtete: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt“.
Jorge Semprun, der Jean Améry offenbar erst sehr spät in seinem Leben gelesen hat, widerspricht nun in seinem letzten Buch dem österreichischen Philosophen heftig & behauptet, seine Erfahrung sage ihm „das genaue Gegenteil“. Nicht das Opfer, sondern der Henker werde in der Welt nie mehr heimisch. „Das Opfer dagegen (…) sieht, auf sein Schweigen gestützt, in allen Zwischenräumen mit den willkommenen Atempausen, wie seine Bindungen zur Welt sich vermehren, sieht, wie die Gründe seines Heimischseins in der Welt Wurzeln schlagen, sich verzweigen, wuchern“.
Flapsig könnte man dazu sagen: „Der Mann hat gut reden!“ – weil der lebenslange Antifaschist Jorge Semprun, der immer großes Glück & alle seine Lebensgefahren überlebt hatte, sich auch immer in der Kameradschaft & der brüderlichen Solidarität Gleichgesinnter auf-, wo nicht zuletzt als spanischer Minister sogar hochgehoben sehen konnte.
Der achtzigjährige Semprun, der sich zu Beginn seiner „Überlebensübungen“ als heutiger Bargast des berühmten Nobelhotels „Lutetia“ imaginiert, denkt dort an seine Rekrutierung für die Resistance – zu einer Zeit, als er das „Lutetia“, das Gestapohauptquartier in Paris, meiden musste. Genau hier aber beginnt der alte Schriftsteller nun gewissermaßen erinnernd die letzte Runde seiner triumphalen Lebensreise. Sie führt ihn noch einmal an allen Stationen seiner so oft literarisch rekapitulierten Passion vorbei. Wer Jean-Pierre Melvilles großen Resistence-Film „Armee der Schatten“ kennt, wird sich hin & wieder daran erinnert fühlen – umso mehr, als die Schauspielerin Simon Signoret in Film & Buch anwesend ist. Sie gehörte zusammen mit ihrem Mann Yves Montand zu Sempruns engsten Lebensfreunden.
Neu ist für Sempruns Kenner & Liebhaber nur jene Passage, mit der das Fragment aufhört. Wobei es erstaunlich ist, dass dem auf seine Bildung so stolzen Spanier nicht bewusst wird, dass nicht nur Don Quichote sich selbst als historische Person erfährt, sondern auch er! Zwar hat Semprun die Befreiung des Lagers Buchenwald selbst in einem seiner Bücher beschrieben. Nun aber stößt er auf den Bericht der zwei Amerikaner, die als erste dort eingetroffen waren & sich einer bewaffneten Gruppe von hungrig aussehenden Männern konfrontiert sahen, die in militärischen Formationen in Richtung Weimar aus dem Lager marschierten & lachend mit ihren Armen herumfuchtelten.
„Gewiß“, kommentiert der alte Semprun diesen gerade erst aufgetauchten Bericht, “sie haben mich nicht erkannt in der Menge der Häftlinge in Kampfformation auf der Straße nach Weimar. Wie hätten sie es auch tun können? Auch ich habe es in meinem Blickfeld nicht isoliert, nicht auf der Retina des Gedächtnisses festgehalten, das Bild dieses Jeeps, der am 11. April am frühen Nachmittag zu dem monumentalen Eingang von Buchenwald fuhr. Aber ich war da. Ich kann bestätigen, dass sie sehr wohl gesehen haben, was sie betrachteten, auch wenn wir uns nicht selbst gesehen haben. Ich kann die Kehrseite ihres Berichts erzählen, die andere Seite des Erlebens, und damit diesem Ereignis eine romanhafte Wahrheitsdimension verleihen, diesem Zeugnis, das sich sonst wahrscheinlich verflüchtigt hätte; bestenfalls im Staub der Archive vergraben wäre. Denn ich war da, unter den bewaffneten Häftlingen. Und ich trage eine Bazooka auf der Schulter“.
Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass der Schriftsteller Jorge Semprun hier in der Reflexion über die „romanhafte Wahrheitsdimension“ seiner Bücher im Gegenlicht eines damit konkurrierenden Zeugnisses anderer sich über die prekär-komplexe Beziehung von Erinnerung, Imagination, Dokument & Roman ein letztes Mal Gedanken macht.
Wolfram Schütte
Jorge Semprun: Überlebensübungen. Erzählung. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 111 Seiten. 15,00 Euro.