Fran Ray
heute über Joyce Carol Oates‘ „Vergewaltigt – Eine Liebesgeschichte“.
Ich bitte zu entschuldigen, dass ich dieses Buch diesmal nicht persönlich vorstellen kann. Ausnahmsweise hat dies mein Sekretär übernommen. Für den Inhalt ist allein er verantwortlich.
Nachdem das schmale Buch tagelang auf Fran Rays Schreibtisch gelegen und das Buchzeichen ungewöhnlich langsam weitergewandert ist, nachdem das Buch stillschweigend in Fran Rays Bücherregal eingeordnet wurde, wusste ich, dass meine Arbeitgeberin ein Problem damit hat. Darauf angesprochen, gab sie mir zu verstehen, dass es ihr UNMÖGLICH sei, dieses Buch weiterzulesen, geschweige denn, zu rezensieren. Sie habe nach den ersten Seiten schon nicht mehr schlafen können.
Falls Sie es nicht wissen sollten: Meine Arbeitgeberin ist selbst nicht gerade zimperlich, wenn es um die Schilderung von Gewalttaten geht. Was, also, fragte ich mich, kann eine versierte Thrillerautorin an einem schmalen 170-Seiten Bändchen so umhauen?
„Lesen Sie es selbst“, meinte Frau Ray, „auf Ihre Verantwortung.“
Zugegeben, der Titel „Vergewaltigt – Eine Liebesgeschichte“ – der auch im amerikanischen Original „Rape – A Love Story“ nicht anders heißt, kann schon für Irritation sorgen. So gewarnt begann ich zu lesen. Ich musste Fran Ray Recht geben: Schon die erste Seite hat mich entsetzt.
Die 1938 im US-Bundesstaat New York geborene Oates redet nicht drumrum, gönnt uns keine Einführung, keine langsame Einstimmung, nimmt keine Rücksicht auf uns Leser, oh nein, sie wirft uns gleich mittenrein – in die äußerst brutale Vergewaltigung und Misshandlung einer Mutter und ihrer zwölfjährigen Tochter.
Wir müssten doch abgebrüht sein, durch die täglichen Nachrichten über Völkermorde, afrikanische Kindersoldaten und die Flut von blutrünstigen Krimiserien – das wollen Sie doch jetzt sagen, nicht wahr? Was kann so sehr entsetzen?
Und müssten nicht Bilder im Fernsehen und im Kino viel mehr schockieren können als Worte in einem Roman?
Der vielfach ausgezeichneten Autorin von mehr als 60 Romanen und zahlreichen Kurzgeschichten, Essays, Jugendromanen und Gedichtsammlungen gelingt es, uns mit knapper, präziser und direkter Sprache, die auf jegliche Sentimentalitäten verzichtet, zu packen. Wir sind dabei, bei Bethie, der Tochter. In Buffalo. In jener Nacht, als sie mit ihrer Mutter Teena von einer Party bei deren Freund nach Hause geht. Der Weg ist nicht weit, nur kurz durch den Park … aber auf einmal sind sie da, die Typen aus der Nachbarschaft, die ihre Mutter – und auch sie vom Sehen kennt. Sie haben getrunken und fühlen sich stark, rufen hinter ihnen her. Teena versucht es mit Ruhe und Gelassenheit, dann mit Bitten und Flehen, aber die Typen sind wie eine Meute, die die Blut geleckt hat und sich nicht mehr aufhalten lässt.
Sie hetzen ihre Opfer ins Bootshaus.
Und wir sind genauso machtlos wie die zwölfjährige Bethie, der sie schon den Arm ausgekugelt haben, und die es doch noch schafft, sich irgendwo zu verkriechen, die die Schreie ihrer Mutter hört und das Gegröle ihrer Peiniger, und nichts tun kann.
Die beiden überleben, ja, aber von dieser Nacht, von diesem Moment an ist für Mutter und Tochter das Leben ein anderes geworden. Das, was vorher war, hat keinen Bestand mehr. Es ist, als würden sie eine andere Welt betreten.
Ich will Ihnen nicht den Inhalt erzählen, nur so viel: Die Täter werden gefasst, aber sie sind noch lange nicht verurteilt. Denn schnell breitet sich mal wieder die Frage aus, ob die attraktive und zurechtgemachte junge Frau mit ihrer leichten Bekleidung, gut gelaunt von einer Party, nicht selbst ein bisschen Spaß wollte, da im Bootshaus – und dass die Dinge nur ein bisschen außer Kontrolle geraten sind – der Anwalt der Angeklagten ist teuer und skrupellos.
Der Kampf der Opfer um Gerechtigkeit scheint verloren – aber dann ist da noch eine Liebesgeschichte. Still irgendwie aber dennoch gewaltig – danke dafür, Joyce Carol Oates!
(Fran Ray hat inzwischen doch das Buch gelesen und es im Regal in die Reihe ihrer Favoriten eingeordnet.)
Fran Ray
Joyce Carol Oates: Vergewaltigt – Eine Liebesgeschichte ( Rape. A love Story, 2003). Roman. Deutsch von Uda Strätling. Frankfurt am Main: Fischer TB 2012. 165 Seiten. 8,99 Euro. Zur Homepage von Fran Ray, zu Fran Rays neuem Buch „Das Syndikat“. Foto: Harke.