Finster und verzwickt
– Von der Rolle geratene Rollenbilder, überall und gerade auch in Königswinter, können tödliche Prozesse auslösen. Judith Merchant beschreibt sie in ihrer Loreley-Variante. Anne Kuhlmeyer hat sie für uns gelesen …
Der Ort der Handlung liegt fernab der bedeutsamen Orte dieser Welt. Es ist nicht New York oder Sidney, Paris oder München. Es ist Königswinter am Rhein. Königswinter, das für die Königswinterer ein durchaus bedeutsamer Ort ist. Und Königswinterer sind auch keine anderen Leute als Leute an anderen Orten. Sie unterscheiden sich sicher in ihren Lebensverhältnissen von denen in Manila oder Baku, nicht aber durch die Ästhetik ihrer Anatomie zum Beispiel. Eine gesunde Leber ist in Königswinter genauso hübsch, wie ein intaktes Herz in Mailand. Leute sind sich auf der Welt schon sehr ähnlich, von einem bestimmten Blickwinkel aus betrachtet, und deshalb lohnt es, auch über die in Königswinter zu lesen.
Und nein, es gibt nicht das große, globale Verbrechen, die richtig bösen Schurken und abgezupften Halunken mit ihren Verbindungen in Politik und Wirtschaft. Es gibt nur ganz normale Leute, die ein bisschen verstrickt sind in ihren Rollen. Mit ebenso tödlichen Folgen.
Knicklichter …
Einen Angler gibt es, der den Bruder des Nachbarn im Rhein findet und ihn mit Knicklichtern markiert, auf dass sein Leichnam nicht verloren gehe wie der seines toten Fünfjährigen vor Jahren. Arbeitslos ist der Angler und Schulden hat er. Und obwohl seine Frau Marla an einer Angststörung leidet, die sie hindert, dem Fluss nahe zu kommen und ihren Alltag zu bewältigen, hat die kleine Familie kein Geld, um fortzuziehen, sondern muss sich von der Öko-Nachbarin Juli in Alltagsdingen helfen lassen. Die backt Möhrenkuchen für ihre drei Kinder und Marlas Tochter und rettet Marla aus ihren Hyperventilationsattacken, während ihr Mann (und Bruder des Toten) mit wachsverstöpselten Ohren seinen Nachtschlaf für den Bürojob kindersichert. Der Ermittler Jan fürchtet sich vor den Schwangerschaftswünschen seiner Fast-Ex oder Immer-noch-Freundin. Die Ermittlerin Elena fürchtet sich vor dem plötzlichen Entschluss ihres Geliebten, in ihre Wohnung zu ziehen. Wie auch immer sich der Fall entwickelt, alle sind unsicher in ihren Beziehungen, bleiben vage, finden nicht hinein in tradierte Rollen oder nicht heraus, übernehmen keine Verantwortung oder klammern sich verzweifelt an Hergebrachtes, überfordert, einsam und unglücklich, wie sie sind.

Judith Merchant (©Atelier Herff / Bonn, Quelle: Droemer Knaur Verlag)
… und Sirenen, today …
Das ist die Stärke des Romans: Die Frage, wie lebt man als Mann und Frau und Familie in einer Zeit, in der man nicht weiß, wie man Mann und Frau sein soll, welche Aufgaben man hat und welche Wahl man treffen kann. Schade, dass die Autorin nicht auf die historisch näheren Ursprünge der Rollenunsicherheit eingeht, wie die sogenannte sexuelle Revolution oder die Entwicklung der „Pille“, Gesetzesänderungen Anfang der 1970er, nach denen es den Frauen gestattet wurde, ohne Zustimmung der Ehemänner einen Job anzunehmen oder die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.
Die Großmutter des Ermittlers, eine eifrige Leserin, verweist auf Effi Briest. Effi, die zwar ihre Autonomieprobleme inmitten von unglaublich viel Landschaft hatte, die aber mit den aktuellen Rollenverschiebungen deutlich entfernter zu tun haben. Auch werden die Mythen der schönen Loreley und der Sirenen aufgegriffen, Varianten der Dämonisierung des Weiblichen, um sie erfreulicherweise als Modelle zu verwerfen.
Sprachlich profund mit originellen Bildern, stellenweise ironisch und dramaturgisch spannend ist Judith Merchants zweiter Kriminalroman ein Vergnügen für alle, die eine finstere Atmosphäre und verzwickte Beziehungen mögen.
Anne Kuhlmeyer
Judith Merchant: Loreley singt nicht mehr. Roman. München: Knaur 2012. 357 Seiten. 9,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.