Geschrieben am 11. Juni 2014 von für Bücher, Litmag

Julio Cortázar/Carol Dunlop: Die Autonauten auf der Kosmobahn

Julio Cortázar und Carol Dunlop_ Die Autonauten auf der KosmobahnSpielanordnung für das letzte Glück

– Julio Cortazar und Carol Dunlop auf dem Archipel der Autobahn-Parkplätze. Von Wolfram Schütte

Auf das wohl bizarrste seiner Bücher haben die hiesigen Kenner & Liebhaber des 1984 in Paris im Alter von 70 Jahren gestorbenen Julio Cortázar lange warten müssen. 1993 haben der Übersetzer Wilfried Böhringer und der Suhrkamp-Verlag Cortazars deutschen „Leser-Komplizen“ das exzentrische Buch erstmals vorgelegt. Diese humoristisch-melancholische Abschiedsvorstellung für zwei Liebende (in Leser-Begleitung) liegt nun wieder allen, die den großen Argentinier kennen & lieben lernen wollen, in der „Bibliothek Suhrkamp“ offen vor Augen.

Von allen seinen Romanen, Erzählungen und Essays unterscheidet sich dieses ultimative literarische Unternehmen Cortázars durch die Doppelautorenschaft: Er hat es zusammen mit seiner letzten Lebensgefährtin, der kanadischen Schriftstellerin und Fotografin Carol Dunlop, geschrieben; es ist Fragment geblieben, weil „das Bärchen“ vor der endgültigen Ausarbeitung an Leukämie gestorben ist – wie ja dann auch Cortázar, „der Wolf“, in dessen Todesjahr es erschien: zwei Jahre, nachdem die Liebenden das Buch gelebt hatten.

Denn – und das ist ein weiteres Unikum im Oeuvre des in Brüssel geborenen, in Buenos Aires aufgewachsenen und als französischer Staatsbürger gestorbenen literarischen Landsmanns von J. L. Borges – „Die Autonauten auf der Kosmobahn“ protokolliert nichts anderes als eine VW-Bus-Reise des Paares, die es zwischen dem 23. Mai und 23. Juni 1982 auf der Autobahn Paris-Marseille unternommen (und was es sowohl dabei erlebt als auch imaginiert) hatte. Ein Monat nur auf der Autobahn: „eine Entfaltung in Glück und Liebe, ein Monat außerhalb der Zeit, ein innerer Monat, in dem wir zum ersten und zum letzten Mal erfuhren, was uneingeschränktes Glück (inmitten eines technologischen Getöses) ist“.

Ein Irrsinn? Urlaub auf dem rasenden Förderband des Lärms? Wie kommt einer der großen intellektuellen Autoren der lateinamerikanischen Literatur dazu, den banalsten Ort des Geschwindigkeitswahnsinns sich als Ruhezone auszusuchen? Er, der doch schon mit seiner bereits 1966 (!) erschienenen Erzählung „Südliche Autobahn“ dem Verkehrsstau eine Apokalypse vorausgeschrieben & die Jean-Luc Godard zu seinem chef d‘ oeuvre “Week end“ inspiriert hatte? „Ohne alle Regeln wäre diese Reise nichts als eine Dummheit“, schreibt Cortázar. Was er in seinen großen Romanen „Rayuela“ und „62 / Modellbaukasten“ als literarische Spielanordnung labyrinthischer Phantastik zwischen Zwang und Freiheit, Gesetz und Überschreitung ausfabuliert hatte – er war ein Pataphysiker und gehörte zum Umkreis der Oulipo-Phantasten -, das hat er sich, bereits unterm doppelten Todesschatten, als seine letzte Reise ins Licht mit Carol Dunlop als gelebten Roman „erlaubt“.

Spielerische Expedition in den Alltag

Der großherzige Parteigänger eines lateinamerikanischen Wegs zum Sozialismus, den er bis zuletzt im sandinistischen Nicaragua in Zielnähe sah, hatte vier Jahre auf die Verwirklichung seiner „etwas verrückten surrealistischen Expedition“ auf der Autobahn gewartet. Während dieser Zeit hatten sich „die Dämonen“ (wie er diskret metaphorisch die Vorboten der tödlichen Heimsuchung nannte) immer wieder gemeldet. Ihnen für einen Monat zu entkommen, war gemeinsames Ziel der verehelichten Todeskandidaten.

Es war ein exakt vorbereitetes „Forschungsunternehmen“ des Tarot-Spielers und Jules-Verne-Kenners. Zur Raumkapsel und Kolumbus-Jolle für ihre 800 Kilometer-Expedition wurde ihnen dabei der mit Eisschrank, Klappstuhl, Konserven, Büchern, Schreibmaschinen, Musikkassetten, Fotoapparat und (vor allem) einem Bett ausgerüstete VW-Bus, „Fafnir“ genannt – nach dem Drachen, der den Nibelungenschatz bewacht hat. Jeden Tag sollten zwei der 65 Rastplätze zwischen Paris und Marseille angefahren & auf dem zweiten dann übernachtet werden. Für den 11. und 21. Tag würden Freunde die „Autonauten“, die sich nur aus ihren Vorräten und dem auf der Autobahn zu Erlangenden ernährten, mit frischem Proviant (und Zuneigung) versorgen. Denn die einmal eingeschlagene Bahn der Spielanordnung auf der Autobahn durfte nicht verlassen werden, um die klaustrophobische Dichte der gemeinsamen Selbsterfahrung nicht zu durchbrechen.

Die spielerische Simulation dieser Expedition in den Alltag parodiert sowohl den barocken Roman wie die Berichte der Entdecker und Weltreisenden Kolumbus und Cook. Nicht nur, indem das „Bordbuch“ der Autonauten täglich Ort, Zeit, Wetter, Verpflegung (samt Skorbut-Angst) und absonderliche Erkenntnisse festhält; sondern auch die topografischen Erlebnisberichte, die Selbstbefindlichkeiten der Reisenden, ihre Entzückungen und Ängste angesichts des Unbekannten und Rätselhaften, auf das sie in Tag & Traum, beim Gewahrwerden von Engeln, UFOs, Hexen und Verfolgern in Gewittern und Stürmen, Hitzezonen und Wüsteneien stoßen, werden „dem bleichen Leser“ augenzwinkernd als Kapitel eines romantischen Abenteuerromans aufgeblättert.

Und was jenen Vorläufern Zeichnungen und Kupferstiche waren, sind diesen surrealistischen Nachzüglern auf dem „Archipel der Rastplätze“ Fotografien, denen ein eigener kommentierender Subtext ebenso beigegeben ist – wie die kindlichen Zeichnungen von Carol Dunlops vierzehnjährigem Sohn den seltsamen Reisebericht märchenkindlich schmücken. In die vexierbildhaften Ironien des Buch-Korpus werden mannigfache literarische Strategien eingespeist: Kriminal- & Suspense-Motive, Prosa-Hymnen (auf das „Universum des Baums“, auf Schnecken und die Lerche), philosophisch-phänomenologische Abschweifungen über den Biss einer Ameise oder über Hunde und Kinder auf Parkplätzen, über Lastwagen im Allgemeinen und über deren mögliche Transporte im Besonderen. Carol Dunlop schreibt einen kleinen Brief-Roman über eine unwürdige Greisin, die auf ihren Autobahnreisen immer wieder auf die „zwei Verrückten“ stößt, die sie bei einer nachmittäglichen Siesta im Bus beim Unaussprechlichen voyeurte Und Julio Cortazar, immer mal wieder heimgesucht von seinen literarischen Erfindungen, z. B. dem clownesken Paar Calac/Polanco, erfindet eine Hommage für Hammett & Chandler als Motel-Abenteuer.

Kurz & gut: was für ein tolles, einzigartiges, grandioses Buch!

Wolfram Schütte

Julio Cortázar/Carol Dunlop: Die Autonauten auf der Kosmobahn. Deutsch von Wilfried Böhringer. Bibliothek Suhrkamp, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014. 358 Seiten. 22.95 Euro.

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