

Prof. Dr. Dschungelkind
Seit sich jeder Quadratzentimeter belebte Natur per Knopfdruck auf den Bildschirm holen lässt, seit keine noch so abseitige Frage im Netz länger als fünf Minuten unbeantwortet bleibt, spätestens aber seitdem die Bilder von mit Speeren nach Hubschraubern werfenden Wilden um die Welt gegangen sind, ist das noch Unbekannte wieder aufregend, das Unentdeckte sexy.
In einer Zeit durchdrehenden Fortschritts beginnt man sich wieder zu fragen, wieso eigentlich Leute, die nicht mal wissen, was elektrischer Strom ist, die nie Kontakt zur Zivilisation gehabt haben, überhaupt glücklich sein können – und sich im Dschungel offenbar wohler und sicherer fühlen als wir in der Stadt.
Die Wegbereiterin dieses Denkens, Vorzeige-Dschungelkind Sabine Kuegler, ist in ihrer Sachbuch-Trilogie, in der sie die Vertreibung aus dem Paradies, das Zerbrechen an der Zivilisation und den endgültigen Verlust der Unschuld in geradezu biblischer Dramaturgie ein für allemal in Stein gemeißelt hat, sozusagen am Kreuz für alle gestorben, die das alte und meist romantisch gefärbte Lied von unberührter Natur und paradiesischem Urzustand wieder und wieder anstimmen wollen.
Life according to Disney
Wer jetzt noch alte Stämme neu entdecken, wer jetzt noch den Umweg über das Fremde, das Beängstigende gehen will, um uns und unsere Zivilisation besser und schärfer darstellen zu können, braucht eine Prämisse jenseits von Disney, Avatar und Gutmenschentum.
Was die Philosophin und ehemalige Schülerin des Friedensforschers Carl Friedrich von Weizsäcker in ihrem schmalen, kaum mehr als 100 Seiten umfassenden Band „Unter Kannibalen“ vorlegt, ist aber weder Reisebericht, noch philosophische Betrachtung, noch Sensation oder ethnologische Studie, obwohl es das alles gleichzeitig sein will, und noch viel mehr: „Es gibt sie noch, die Kannibalen im 21. Jahrhundert!“ bildschlagzeilt es uns schon im ersten Satz markig entgegen; eine Eröffnung, die aber ebenso wie der Titel wohl nur aus marketingstrategischen Gesichtspunkten gewählt wurde. Kannibalismus kommt kaum vor und wird eher verschämt am Rande abgehandelt. Der Ton dieses Buches ist moderat, gefällig, gut abgehangen, könnte man sagen. Ein wenig müde und satt, könnte man auch sagen.
Es kommen vor: Ein etwas blasser Reisebericht, ein bisschen Stammesleben, zwei wörtlich transkribierte Interviews, ein paar mäßig nachvollziehbare Vergleiche zwischen beispielsweise Verhexung und ihrer „modernen Schwester“, dem Burn-out-Syndrom, eine Prise Kritik an der Gesellschaft hier, der Missionierung dort. Aber obwohl das ein Sachbuch ist, vermisst man ein wenig das Feuer, den gedanklichen Furor, das Abenteuerliche und Waghalsige, das dem Titel ganz gut zu Gesicht stünde.
Was bleibt, ist ein etwas unentschiedenes und halbgares Potpourri, ein Streifzug durch einen Dschungel an Themen, der die Themen eben nur – streift. Etwa so interessant wie der Pflichtbesuch bei der Oma. Er tut niemandem weh, ja vielleicht freut man sich sogar über die sanfte Hand, die einem liebevoll über den Kopf streicht. Und irgendwie so ist auch dieses Buch: eher ein Streichler denn ein Menschenfresser.
Stefan Beuse
Karen Gloy: Unter Kannibalen. Eine Philosophin im Urwald von Westpapua.
Primus Verlag 2010. 128 Seiten. 19,90 Euro.