Gründliche Tour zu den hiesigen Erscheinungsformen des Islam
von Michael Höfler
– Religion (eigentlich: Glaube) ist individuelle Freiheit, und deshalb gibt es viele Arten, dieselbe Religion zu praktizieren. Die christliche Geschichte zeigt insbesondere, dass man auf Grundlage desselben Buches beliebig gut oder böse handeln kann (aufgezeichnetes Zitat im Buch: „Die Religion ist wie ein Skalpell. Man kann damit töten und Leben retten.“). Diese Erkenntnis könnte man einfach auf den Islam übertragen, stattdessen ruft der Islam im gegenwärtigen Deutschland die Grundangst vor allem Unbekannten hervor und dient als Projektionsfläche für alles, was man verachtet. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Christentum und Islam ist jedoch, dass der Islam sich schwerlich institutionalisieren lässt. Für die Journalistin Karen Krüger hatte dies im Regulierungsland Deutschland zur Folge, dass nur „ganz bestimmte islamische Glaubensrichtungen institutionalisiert worden“ seien. Fatale Konsequenz: „Zum Erliegen kam damit ein Gemeindeleben, dessen Merkmale Freiheit, Unabhängigkeit und eine große Offenheit gegenüber islamischer Vielfalt gewesen war.“
Karen Krüger hat im Sommer 2015 viele, viele Vertreter des Islam gefunden: einen islamischen Bestatter, der zur Traditionswahrung oft binnen 24 Stunden eine Beerdigung organisieren und durchführen lassen muss; einen Psychotherapeuten, der Suizide erlebt hat, weil AKP-Organisationen Patienten zu einem angeblich wohltätigen Zweck um ihr Geld geprellt haben; einen Religionspädagogen, dem zufolge das einzige Problem am Islam „die patriarchalischen Strukturen, die der Volksislam transportiert“ seien; einen Gefängnisseelsorger, der sich in der verqueren Gedankenwelt junger Salafisten auskennt; einen Geschäftsinhaber, der mit unverkrampfter islamischer Mode auf 9/11 regiert hat. Dazu einen islamischen Banker, der keine Zinsen nimmt, Öko-Moslems, Hoteliers, die die politischen Konflikte mit ihren Kollegen austragen, u.u.u.
In dem Buch wechseln sich Reisebegegnungen und Hintergrundwissen ab, wie es der Verlauf der Reise ergibt. Krüger überlässt es dem Leser weitgehend selbst, wie er die Informationen zu einem Mosaik der Heterogenität zusammen baut. Auch hält sie sich mit dezidierten Aussagen meist zurück. Ausnahmen macht sie nur, wenn es ganz grundsätzlich wird: „In den Moscheegemeinden hat oft noch eine Migrantengeneration das Sagen, die in den gesellschaftlichen und religiösen Normen und Vorstellungen der Achtzigerjahre der Türkei verhaftet ist.“ „Die Identitäten der integrierten Muslime, die wie die Mehrheit der Migranten in Deutschland einfach ihr Leben leben, lassen sich kaum auf das Streitbare reduzieren. Ihre Stimmen […] bleiben in den Talk-Runden ungehört.“
Krüger beschreibt über die Moslems, die sie trifft, viele Konflikte gut, z.B. zu den Themen Kopftuch, Beschneidung und Sexualität. Sie tut es oft mehrfach, versucht aber gar nicht, die Widersprüche zwischen individueller Freiheit und explizitem bis implizitem Gruppendruck aufzulösen. Auch thematisiert sie bei der Religionsfreiheit kaum die Freiheit derer, die nicht gestört werden wollen, und gar nicht den grundsätzlichen Widerspruch zwischen Religion und Aufklärung. Hier hätte ein Vergleich mit den Freiheiten, die das Christentum da hat, ein breiter angelegtes Plädoyer für Toleranz ergeben können.
Schlussendlich erfüllt die Autorin das Ziel des Buches, die Vielfalt des Islam in Deutschland nachzuweisen, sehr gut. Das ist im Ergebnis nicht sonderlich überraschend, aber bei dem Niveau und der Dialektikverweigerung in der öffentlichen Debatte als solches bereits erfreulich.
Michael Höfler
Karen Krüger: Eine Reise durch das islamische Deutschland. Rowohlt 2016. 19,95 Euro.