Geschrieben am 6. Mai 2017 von für Biografie, Bücher, Litmag, News

Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie

bohrer_jetztSuche nach dem jetzt“ einer beglückenden Plötzlichkeit

– Er ist der Präzeptor wegweisender Studien über ästhetische Fragen: Karl Heinz Bohrer, 84, hat Bücher über die „Ästhetik des Schreckens“ und „Die Grenzen des Ästhetischen“ veröffentlicht, ihn interessieren vor allem ästhetische Aspekte, die bei der Analyse gesellschaftspolitischer Entwicklungen relevant sein könnten. Aber auch das Böse als ästhetische Kategorie, verstörende Momente in Werken der Romantik, schätzte er als erhellende, inspirierende Augenblicke von Plötzlichkeit. Nach „Granatsplitter“ hat Bohrer nun mit „Jetzt“ eine Fortsetzung seines ideengeschichtlichen Rückblicks veröffentlicht, in der er seine Suche nach den Erfahrungen mit Differenz und den Augenblicken des Fremden beschreibt. Seine Erfahrungen als FAZ-Redakteur, London-Korrespondent, Bielefelder Germanistik-Prof und seine Pariser Jahre will er darin nicht als chronologisch aufgereihte Autobiographie verstanden wissen, sondern als Suche nach prägenden Impressionen und Erkenntnissen auf einer langen intellektuellen Entdeckungsreise. Von Peter Münder

„Ein Terror liegt über dem Land: Die Akzeptanz des Ästhetischen. Die Sphäre, die man noch bis vor einem Jahrzehnt ehrlicherweise dem generellen Diskurs für nicht zugänglich empfand, scheint nunmehr dessen prominente Stimme geworden. Entweder hat sich die Gesellschaft bzw. ihre Wahrnehmungskapazität radikal geändert oder aber es liegt ein Mißverständnis vor.“ Bohrer, „Die Grenzen des Ästhetischen“, 1998

Die Faszination dunkelrot oder bläulichweiß leuchtender Granatsplitter mit schwarzen Rändern, die der junge Karl nach den ersten Bombenangriffen in Köln aufsammelte, beschrieb Karl Heinz Bohrer in seiner autobiographischen Erzählung „Granatsplitter“ 2012 als intensive, märchenhafte Extremerfahrung: „Man war der Held eines Märchens, der etwas Wunderschönes, sehr Fremdes, sehr Seltsames fand, das ihm das Gefühl gab, fortan Glück zu haben“. Karls Suche nach dem sinnlich-exotischen Abenteuer und dem aufregenden literarischen oder künstlerischen Ereignis entwickelte sich zum ästhetischen Leitmotiv des FAZ-Redakteurs, Merkur-Herausgebers und Germanistik-Professors Bohrer.

Sein „Granatsplitter“-Rückblick auf eine bildungsbeflissene Internatszeit (Birklehof), die ihn mit Latein und Griechisch sowie spannenden Theateraufführungen und Diskussionen beglückte, bei denen er brillieren konnte, liest sich streckenweise wie eine idealistisch verbrämte Vorstudie zu „Wilhelm Meisters Lehrjahre“.

Faszinierend ist jedenfalls das immense Interessen-Spektrum, das den jungen Karl-Heinz Bohrer beschäftigt: Neben seinen Literatur-, Theater-und Philosophie-Interessen kaprizierte er sich schon früh auf die Kritik an einer verknöcherten reaktionären Politkaste, die meinte, während der Adenauer-Ära auf eine Kooperation mit Alt-Nazis setzen zu können.

Seine Bereitschaft zur Einmischung und zum Einlassen auf eine kritische Debattenkultur, die Bohrer dann als Merkur-Herausgeber ab 1984 so beispielhaft und erfolgreich praktizierte, hatte sich jedenfalls schon in diesen frühen Nachkriegsjahren herausgebildet. Kaum etwas verabscheute er mehr als den muffigen Mainzelmännchen-Provinzialismus hinter dem Jägerzaun – was er dann auch als „Merkur“-Herausgeber in einer provozierenden Serie thematisierte. Zu diesem selbstzufriedenen Ausweichen vor unerquicklichen Konfrontationen zählte er auch die öffentliche Entrüstung, die hier durchs Land brandete, als Maggie Thatcher britische Truppen mobilisierte, um die argentinische Invasion auf den Falkland-Inseln zu stoppen. Damals war Bohrer in London und konnte kaum glauben, wie borniert und selbstgefällig die deutschen Medien und das Establishment nach „Ein bisschen Frieden“ jipperten, den ihnen der Eurovisions-Schlager damals so innig ans Herz gelegt hatte und die militante Kriegerin in Number Ten geradezu verteufelten.

Dem damaligen FAZ- Korrespondenten ging es dagegen um die eindeutige Haltung, die sich nicht einer gerade vorherrschenden Ideologie anbiedert, sondern klare Kante zeigt – wie er im Beitrag „Falkland oder die Mainzelmännchen“ verkündete. Aber verbirgt sich hinter dieser brisanten Konfrontation überhaupt eine ästhetisch eingefärbte Suche nach „Plötzlichkeit“, nach dem erhellenden „Jetzt“, was ja sein dominierendes Leitmotiv ist?

Für Bohrer scheint diese relativ diffuse ästhetische Dimension identisch zu sein mit seinem angestrebten „Abenteuer mit der Phantasie“ – er möchte diesen Moment, diese Suche nach dem Fremden und Geheimnisvollen aber auch extrem ausweiten und instrumentalisieren, wenn es ihm irgendwie ins Konzept passt.

Die daraus resultierende konzeptionelle Mehrdeutigkeit wirkt dann streckenweise so, als habe sich Tristram Shandys Uncle Toby mal wieder in allzu weitschweifige Digressions verirrt: Brentano und ETA Hoffmann, die vom Kontinent übernommene Tikitaka-Kickerei, die sich in der Premier League eingenistet hat, Heines Ironie-Impuls, Habermas und seine verquere Europa-Vision, Walter Benjamins Begriff der „profanen Erleuchtung“ – all das und noch viel mehr behandelt Bohrer hier im Kontext seiner Suche nach dem beglückenden Jetzt-Moment.

Die von ihm bereits 1998 beklagte überbordende Akzeptanz des Ästhetischen, die nach seiner Meinung eine Auseinandersetzung mit den Grenzen des Ästhetischen erforderlich machte, scheint Bohrer hier wieder heftig zu betreiben und auszuweiten. So wird aus seiner Betrachtung aktueller politischer Ereignisse schließlich ein kulturpessimistischer Rundumschlag, der sich auf die europäische Vereinheitlichungs-Manie, „Merkels erzwungenen Kotau gegenüber der Türkei“ ebenso kapriziert wie auf Lessings harmonieselige Versöhnungsbeflissenheit im „Nathan“: „Mir schien es unstatthaft, den hasserfüllten Gegensatz zwischen den arabischen Kämpfern mit den wunderbaren Damaszener Klingen und den fränkischen, also den französischen, englischen und deutschen Kreuzfahrern unter ihren trotzigen normannischen Helmen zu vergessen“.

Auch Bohrers Kritik am grandiosen Shakespeare-Interpreten Stephen Greenblatt, der wie kein anderer Werk und Leben des Barden und den Alltag („1599“) vermittelt, kann nicht überzeugen – dessen angebliche Vernachlässigung der Differenz-Aspekte fällt nur auf, wenn das hermeneutische Sensorium wie bei Bohrer darauf speziell fixiert ist.

Begeisternd sind dagegen die Passagen, in denen Bohrer seine FAZ-Jahre beschreibt: Seine Berichte über die Studentenrevolte und die Diskussionen darüber mit Habermas, die liberale, extrem tolerante Grundstimmung der FAZ-Herausgeber, die direkt aus einem elitären englischen Club zu stammen scheinen, der seltsame österreichische Gast, der regelmäßig in der Redaktion vorspricht, um mit dem jungen Redakteur Bohrer in der Kantine unbedingt eine Rindswurst zu verspeisen, wobei Bohrer genauso intensiv und zufrieden schwieg Thomas Bernhard.

Dann der verletzende, überraschende Wendepunkt: Nicht Bohrer wird Leiter des Feuilletons, sondern Marcel Reich-Ranicki, was für eine beschleunigte Exit-Strategie sorgt: Bohrer geht nach London, ist dort anfangs angesichts der lässig-kultivierten Differenz sehr glücklich, bis er dann registriert, dass er als deutscher Journalist trotz seines FAZ-Nimbus sich mit einer kümmerlichen Statistenrolle begnügen muss.

Und Bielefeld als akademische Spielwiese für Soziologen, Germanisten und Philosophen wird ihm im Lauf der Jahre zu eng: Als Gastprofessor in Paris oder Stanford blüht er dann richtig auf: „Alles ging um die Sache, nichts um Nebensachen. Das äußerte sich auch darin, dass niemand, den ich kannte, jemals von Karriere, Berufungen oder Drittmittelanträgen gesprochen hätte. Das aber schien inzwischen das einzige Thema zu sein, wenn deutsche Professoren und Assistenten miteinander sprachen…“

Zu den spannenden Exkursen, die sich mit konkreten Gegenwartsphänomenen beschäftigen, gehört Bohrers Betrachtung über das PC-Zeitalter und die Veränderungen durch das Internet. Der „letzte Ästhet“ (Die Zeit) besitzt nämlich keinen Computer und benutzt auch kein Internet. Bei seiner Jetzt-Obsession, so Bohrer, war ihm ein entscheidender Aspekt der Internetkommunikation erst vor kurzem klargeworden: „Sie hebt die Differenz zwischen Sender und Empfänger auf. Sie zieht die Individualität des einen mit der Individualität des anderen zusammen. In der Gleichzeitigkeit werden sie einander ähnlich. Denn die Zeit, in der man sich besonders, in der man sich anders fühlt, ist die Zeit im Alleinsein.“

Die Briefe der Romantiker Kleist oder Brentano waren laut Bohrer „Deklarationen einer mit niemand anderem geteilten Subjektivität. Und diese waren nur zustande gekommen, weil der Briefschreiber allein geblieben war mit seinen Gedanken, weil ihm nicht sehr bald geantwortet wurde“. Diese Kritik am „Instant“-Faktor klingt plausibel, doch wie wir wissen, kann man PC und Internet auch nutzen, ohne zwanghaft auf eine instant gratification in Form einer baldigen Antwort fixiert zu sein. Es soll sogar Krimi-Autoren geben, die ihre E-Mail-Eingänge nicht stündlich, sondern erst abends kontrollieren…

Mein Fazit: Auf den Plötzlichkeits-Glücksfaktor bin ich nach der Lektüre von „Jetzt“ zwar stärker sensibilisiert als nach dem Lesen von Kerouacs „On the Road“; doch die Theorie-Debatten über die Surrealisten, Benjamins Geschichtsbegriff oder Hölderlins Vaterlands-Verherrlichung wirken blass, weil sie oft zu ausufernd und redundant betrieben werden.

Faszinierend sind die Details über Kontroversen aus der heißen Zeit der prickelnden „Merkur“-Debatten: Als die Volksseele kochte und die akademischen Gemüter erregt waren, weil der Prof aus Bielefeld den Provinzialismus verhöhnte und seine kritisch-ätzende Serie über die „Politische Politologie“ auch als Aufforderung verstand, das Motto von Camus zu internalisieren, der behauptete „Kein Volk kann außerhalb der Schönheit leben“.

Damals waren die von Bohrer angeregten Debatten über tagesaktuelle Aspekte hinaus auf tiefer gehende grundsätzliche Probleme und Konflikte gerichtet – heute wird doch viel heiße Luft produziert, die dann schnell per Twitter oder Facebook in die weite Welt geblasen wird.

Peter Münder

Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie. Suhrkamp 2017. 542 Seiten. 26,80 Euro.

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