Außer Atem
– Es gibt Clubs, die gewähren nicht jedem Einlass. Der Rotary Club zum Beispiel. Oder das Studio 54. Ganz zu schweigen vom morbid-elitären Club der 27. Keith Richards haben sie in jedem dieser Läden Tür und Tor geöffnet, Mitglied geworden ist er in keinem. Dass er sich mit „Life“ dennoch die Clubmitgliedschaft im Kreis der musikalischen Autobiografen gesichert hat, ist kein Widerspruch, sondern großes Glück, findet Anica Richter.
In Another Land (The Lantern)
Keith Richards war schon als Kind eine coole Sau. Aber wahrscheinlich muss man das auch sein, wenn man ein schmächtiger Freak aus Dartford, South East England ist und in der ständigen Erwartung lebt, eins in die Fresse zu kriegen. Die Trostlosigkeit einer englischen Kleinstadt geht auch am jungen Keith Richards nicht spurlos vorüber – allerdings eher im positiven Sinne. Der Junge sucht Wege aus der Eintönigkeit und Brutalität an seiner Schule und findet seinen Zufluchtsort in der Musik. Schon bald tourt er durch das England der 1950er-Jahre, heimst Preise und Auszeichnungen ein und tritt sogar vor der Queen in der Westminster Abbey auf. Lange vor den Stones. Lange vor Satisfaction. Lange vor alldem hat Keith Richards eine Karriere: als Sopranist im Schulchor der Dartford Technical School.
Während man nach dieser Offenbarung noch damit beschäftigt ist, sein über viele Jahre bis zu nahezu unerträglicher Schärfe entwickeltes Richards-Bild – fertiger Typ, Junkie, Gitarrengott – mit genanntem Chorknaben Alter Ego zusammenzubringen, kommt die Entwarnung. Stimmbruch. Rauswurf aus der Dartford Tech. Umzug in den Süden Londons.
Keith Richards kann Keith Richards werden. Also der, den wir meinen zu kennen.
Time Is On My Side (Congratulations)
Dass Keith Richards und Mick Jagger sich zusammentun, um eine der größten Rockbands unserer Zeit zu gründen, ist nur logisch. Die beiden begegnen sich das erste Mal auf dem Bahnhof in Dartford, Jagger hat sich cool ein paar Platten von Chuck Berry und Muddy Waters (Keith’ große Idole) unter den Arm geklemmt und beeindruckt Richards damit schwer. Diese schicksalhafte Begegnung und die gemeinsame Liebe zum Blues werden zum Erweckungsmoment für die Rolling Stones. Der Rest ist Musikgeschichte.
Dank „Life“ können nun auch diejenigen die Leichtigkeit der durch Marihuana und LCD geschwängerten Swinging Sixties, das Taumeln der durch Acid und Koks vernebelten Seventies, die Bleischwere der durch Heroin verkorksten Eighties und die Renaissance der (nahezu) substanzenfreien Wahrnehmung der Nineties miterleben, die das Los der späten Geburt ereilt hat. Richards nimmt uns mit auf eine atemlose Reise durch sein atemloses Leben. Wir stehen in der ersten Reihe zahlloser ranziger Hinterhof-Clubs in London, Nummern von Bo Diddley und Chuck Berry im Ohr (die frühen Stones spielen vor allem Cover), stets den großen Durchbruch der Band erlauernd. Wir lauschen mit Keith der Kassette, auf die er die grundlegenden Akkorde von Satisfaction gespielt hat (gefolgt von weiteren vierzig Minuten schnarchendem Keith), und sehen Jagger über die Schulter, als er die Lyrics zu diesem Welthit an einem Pool in Clearwater, Florida schreibt, umgeben von Frauen und Drogen. Wir sitzen neben Keith und Anita Pallenberg (die damals noch mit Brian Jones liiert ist) auf dem Rücksitz eines Bentley, irgendwo zwischen Barcelona und Valencia, riechen den Duft der Orangenbäume, spüren die knisternde Spannung zwischen beiden und bekommen rote Ohren, als […].
Was für ein Leben.
Shattered (Everything Is Turning To Gold)
Wie zum Teufel hat Keith Richards das alles überlebt? Die Drogen. Und die Frauen. Den ganzen Wahnsinn eben. Was ist ihm gelungen, dass jenen Mitgliedern des eingangs erwähnten Clubs der 27 nicht gelungen ist? Es ist so einfach gesagt wie schwierig gelebt: Der Mann war glücklich. Er liebte, was er tat. Er liebte seine Musik. Er liebte seine Frau(en). Er liebte seinen Drogenkonsum (wenn auch auf eine spezielle Art). Er liebte sogar Jagger (auf eine sehr spezielle Art).
Natürlich muss man all das auch vor dem Hintergrund der Zeit sehen, in der sich Richards wilde Jahre abgespielt haben. „Life“ macht deutlich, wie sehr die Welt sich verändert hat. Es erzählt von einem Leben aus einer anderen Zeit – ohne Internet, ohne Smartphones, ohne die zeitliche Eins-zu-Eins-Übertragung des Lebens in eine virtuelle Realität. Es erzählt davon, dass du Fehler machen kannst, ohne dass die Welt dir dabei zuguckt und mit dem Finger auf dich zeigt. Es erzählt davon, dass du dir nach einem Absturz Zeit nehmen kannst, um wieder aufzustehen, ohne dass noch der nutzloseste Blogger eine Stunde später dein Leben bewertet. Es erzählt davon, dass du durch die Scheiße gehen kannst, aber trotzdem nicht darin untergehen musst.
(Das hätte mal jemand Morrison, Janis, Brian und Hendrix sagen sollen. Da hat die internetfreie Welt auch nichts genützt. Schon klar.)
Es bleibt zu sagen, dass „Life“ nicht nur aufgrund seines Protagonisten und dessen Vagabunden-Leben faszinierend ist, sondern auch wegen der klaren Sprache und Erzählweise, in der dies alles vorgetragen wird. Keine Spielchen, kein Chi-Chi, kein Rock’n’Roll-Gehabe:
„Liebe Pat,
tut mir leid, dass ich nicht eher (war unzurechnungsfähig) geschrieben habe. Abgang rechts unter donnerndem Applaus. […] Du weißt doch, wie sehr ich auf Chuck Berry abfahre. Ich dachte immer, ich wäre meilenweit der einzige Fan, aber dann stehe ich eines Morgens mit einer Platte von Chuck am Bhf (das ist die Kurzform, damit ich nicht den ganzen Bahnhof ausschreiben muss) Dartford, als ein Knabe, den ich von der Grundschule her kenne, auf mich zukommt. […] Der Kerl da am Bahnhof heißt Mick Jagger. […] Außerdem ist Mick der größte R&B-Sänger auf dieser Atlantikseite, und das meine ich ernsthaft. […] Wir haben hier natürlich auch richtige Genies wie Cliff Richard, Adam Faith und die 2 neuen Schocker Shane Fenton und John Leyton – EINEN SOLCHEN MIST HAST DU NOCH NIE GEHÖRT. Außer von Schmalzlocke Sinatra, ha ha ha ha ha ha ha ha. […] Nächsten Samstag gehen Mick und ich mit 2 Mädchen zu unserem Lieblings-Rhythm-and-Blues-Club in Ealing, Middlesex. Dort haben sie einen Typen an der elektrischen Mundharmonika. Cyril Davies. Unglaublich, immer halb besoffen. Unrasiert, spielt wie ein Wahnsinniger, wunderbar.
So, mehr fällt mir nicht ein, mit dem ich dich langweilen könnte, deshalb verabschiede ich mich jetzt, gute Nacht, liebe Zuschauer. […]“
(Brief von Keith an seine Tante Patti, April 1962)
Mehr bleibt tatsächlich nicht zu sagen. Also: Gute Nacht, liebe Zuschauer.
Und lest vor dem Einschlafen dieses Buch!
Anica Richter
Keith Richards mit James Fox: Life (Life, 2010). München: Wilhelm Heyne Verlag 2010. 735 Seiten. 26,99 Euro.