Back In The U.S.S.R.
– Der Schwede Daniel Espinosa hat Tom Rob Smiths Welterfolg „Kind 44“ (hier bei CM) verfilmt, nicht immer stringent und spannend. Ansehen sollte man ihn sich trotzdem. Lutz Göllner hat das schon getan.
„Verbrechen gibt es nicht im Paradies“, drei Mal fällt dieser Satz im Laufe des Films. Das hat durchaus eine innere, fast schon orwellsche Logik, denn wo der Staat die größten Verbrechen begeht, verblassen andere Taten nahezu.
Aber war es wirklich der sowjetische Staat, der Leo Demidow gebrochen hat? Als Kind ein Überlebender des ukrainischen Holodomor, als Soldat war er derjenige – so erfahren wir in einem kurzen Prolog zum Film – der die Rote Fahne auf dem Reichstag hisste. Acht Jahre später finden wir Leo (Tom Hardy) als Offizier im sowjetischen Ministerium für Staatssicherheit (MGB) wieder, der gnadenlos Regimekritiker und Staatsfeinde verfolgt. Gut, sein Kollege Wassili (Joel Kinnaman) ist noch schlimmer, er ist ein sadistischer Drecksack, den Leo daran hindert, zwei Kinder zu erschießen. Doch dafür wird er Opfer von Wassilis Intrige: Leos Frau Raisa (Noomi Rapace) ist angeblich eine Dissidentin, und er soll sich zwischen ihr und dem Ministerium entscheiden.
Gleichzeitig findet man die Leiche eines kleinen Jungen, Sohn von Leos Kriegskameraden Alexei (Fares Fares). Alle Anzeichen deuten auf einen Mord hin, aber: „Im Paradies gibt es keine Verbrechen“. Als Leo dennoch seine Ermittlungen weiterführt, verbannt sein Vorgesetzter General Kuzmin (Vincent Cassel, der Philip Seymour Hoffman ersetzen musste) ihn und Raissa in die Industriestadt Wualsk. Doch auch hier gab es Morde an Kindern, die vertuscht wurden, 43 insgesamt, der Sohn von Alexei war Kind 44.
Leo und sein neuer Chef, der degradierte General Nesterow (Gary Oldman) finden eine Spur. Doch die bringt Leo auch wieder in die Nähe von Wassili.
À la Schiwago
Tom Rob Smith hatte in seiner preisgekrönten Romanvorlage den Fall des sowjetischen Serienmörders Andrei Tschikatilo genommen und ihn in die 50er Jahre verlegt. Richard Price, selber ein renommierter Schriftsteller („Cash“) und als Drehbuchautor auch schon für „The Wire“ verantwortlich (über „The Wire“ bei CM), hat den etwas byzantinischen Roman ordentlich entschlackt: Die Bande, die Leo und den Serienmörder verbinden, fehlen fast ganz. Und zumindest wenn es zur Ehekrise zwischen Leo und Raissa kommt, gleitet das Drehbuch schwer ins „Doktor Schiwago“-hafte ab.
Dazu kommt: Daniel Espinosas („Safe House“) Film ist einfach gute 20 Minuten zu lang, eben kein Actionthriller, sondern eine langsam erzählte Studie über Paranoia, Unterdrückung und über einen Menschen, der von Dämonen verfolgt auch unter schwierigen politischen Umständen trotzdem das Richtige tun will.
Verboten
Dabei kann er sehr verschwenderisch mit seinen bis in die letzte Nebenrolle gut besetzten Schauspielern umgehen und auf die vollen Schauwerte von Produzent Ridley Scott zurückgreifen: Die Kleidung, die Straßen, das komplette Setting sieht einfach überzeugend aus.
Interessantes Nebendetail: In Putins neuem Russland wurde der Kinostart von „Kind 44“ gerade „Verzerrung historischer Fakten“ und der „eigensinnigen Auslegung von Ereignissen […] sowie Darstellungen und Rollen der Sowjetbürger dieser Zeit“ verboten. Nach wie vor gilt also: Im Paradies kann es keine Verbrechen geben.
Lutz Göllner
Child 44. Regie: Daniel Espinosa. Darsteller: Tom Hardy, Noomi Rapace, Gary Oldman, Joel Kinnaman, Paddy Considine, Vincent Cassel. Drehbuch: Richard Price. 137min, USA/GB/CZ/RO 2015. Kinostart: 4.6.
Tom Rob Smith: Kind 44 (Child 44). Thriller. Aus dem Englischen von Armin Gontermann. Goldmann Verlag 2015. 512 Seiten. 9,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Foto: „Noomi Rapace San Sebastian 2014 crop“ von Orignal: Eduardo García Tomás; derivitive:Tabercil – File:Noomi Rapace San Sebastian 2014.jpg. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.