Ein Ich-Erzähler mit überzeugender Stimme
Andrea O’Brien hat sich den 2001 mit dem „Edgar“ ausgezeichneten Roman von Joe R. Lansdale angesehen und verrät hier, warum sie das Buch immer noch so gut findet.
»The Bottoms: Das Grauen am Fluss« ist der Titel eines spannenden, historischen Romans von Horror-Altmeister Joe R. Lansdale, der seine Leser in einen kleinen Ort am texanischen Sabine River um 1930 entführt. Der in der Tradition des Southern Gothic angesiedelte Roman gewann 2001 den Edgar Allen Poe und den Herodotus Award. 2011 wurde der Roman unter dem Titel „Die Wälder am Fluss“ bei Dumont veröffentlicht.
Dieser Roman ist ein Thriller und eine Coming-of-Age-Geschichte. Der Ich-Erzähler Harry Collins blickt im Alter von 80 Jahren auf ein traumatisches Schlüsselerlebnis zurück, das er im Alter von dreizehn Jahren erlebte und nie vergessen konnte. Damals lebte er mit seinem Eltern und der jüngeren Schwester in einem kleinen Ort namens Marvel Creek in den Sumpfgebieten am Sabine River in Texas. Harrys Welt wird brutal erschüttert, als er die Leiche einer schwarzen Prostituierten findet, die von ihrem Tod grausam gefoltert wurde. Wie sich später herausstellt, ist sie nur eines von mehreren ähnlich zugerichteten Opfern, die schließlich einem zum Zeitpunkt der Handlung im Jahr 1933 unbekannten Typus des Serienmörders zugeschrieben wird.
Zunächst erregt der Tod der jungen Schwarzen, die noch dazu eine Prostituierte ist, wenig Aufsehen. Nur Harrys Vater, der Constable am Ort, drängt auf akribische Aufklärung und wendet sich schließlich an einen jungen Arzt in der nahegelegenen Siedlung für die schwarze Bevölkerung, der in der Kirche der Siedlung eine notdürftige Obduktion durchführt. Gegen den Widerstand der weißen Bevölkerung setzt Harrys Vater seine Ermittlungen durch. Als einige Tage später eine ähnlich zugerichtete weiße Frauenleiche aufgefunden wird, nimmt das Drama seinen Lauf.
„The Bottoms“ zeichnet sich vor allem durch sein Setting und die spezielle Zeit aus, in die diese Geschichte eingebettet ist. Die Sümpfe am Sabine River mit ihrer dichten Vegetation sind geradezu prädestiniert für diesen zeitweise ins Horror-Genre eintauchenden Thriller. Dort geht ein Wesen um, das der junge Harry „The Goatman“ nennt – ein Fabelwesen, das in Texas zur Folklore gehört. In diesem abgelegenen Winkel der USA herrscht die für die damaligen Verhältnisse selbstverständliche Ordnung: die schwarze und die weiße Bevölkerung lebt getrennt, jeder bleibt in seiner zugeteilten Welt, die Berührungspunkte sind beschränkt. In diese vermeintlich „heile“ Welt – vor allem aus Sicht des jugendlichen Harry – bricht das brutale Verbrechen und stellt in seiner Folge alles infrage, was der Junge in seiner naiven Weltsicht bisher als selbstverständlich angenommen hatte.
Joe R. Lansdale, der auf den deutschen Markt kein Unbekannter ist, zeigt sich in „The Bottoms“ einmal mehr als herausragender Geschichtenerzähler. Dank der authentischen Stimme des Ich-Erzählers haben Leser das Gefühl, direkt neben dem alten Mann zu sitzen und ihm zu lauschen. Das hat allerdings nichts Betuliches, hier wird ein düsteres, schauriges Erlebnis geschildert, es geschehen brutale Verbrechen, und wenn auch der Aspekt des Coming-of-Age immer mitschwingt, verhandelt der Autor in seinem Roman wichtige Themen der amerikanischen Geschichte, die bis heute nachhallen. Die relativ ruhige Phase in der Mitte des Romans entpuppt sich rasch als Ruhe vor dem Sturm: Gegen Ende nimmt dieser spannende Thriller noch einmal richtig Fahrt auf und fesselt den Leser bis zu großen Finale.
In den USA ist Joe R. Lansdale, der in Gladewater, Texas geboren wurde und in heute in Nacogdoches lebt, ein bekannter Autor, der viele Romane verfasst und diverse Auszeichungen erhalten hat, unter anderem den British Fantasy Award, den American Horror Award und neun Bram Stoker Awards sowie den Titel World Horror Grand Master.
Andrea O’Brien
Zu Ihrer Internetseite geht es hier. Ihr Blog „Krimiscout“ zur englischen Spannungsliteratur enthält auch Fahnderprofile.
Zu Joe R. Lansdale bei CrimeMag siehe auch Dietmar Dath zur Trilogie „Drive-In“ und die „Bloody Questions“ von Marcus Müntefering und Lansdales Essay „Why My East Texas Neighbours Are Voting for Trump“ aus der Vorwahlzeit.
In Deutschland sind diverse Romane von Lansdale erschienen:
Akt der Liebe, Zebra Books 1981 (2010, Heyne)
Drive In (1997, Maas Verlag / Pulp Master)
Bubba Ho-Tep (1994, Novelle), wurde 2002 unter gleichem Namen verfilmt.
Sturmwarnung (2005, Shayol)
Der Teufelskeiler (2008, Shayol)
Der Gott der Klinge (2008, Heyne)
Kahlschlag (2010, Golkonda)
Gauklersommer (2011, Golkonda)
Die Wälder am Fluss (2011, Dumont)
Ein feiner dunkler Riss (2012, Golkonda)
Straße der Toten (Deadman’s Road, 2010. Deutsche Erstausgabe 2012, Golkonda-Verlag)
Blutiges Echo (Lost Echoes, 2007. Deutsche Erstausgabe 2013, Golkonda-Verlag)
Dunkle Gewässer (2013, Tropen)
Gluthitze. Suhrkamp, Berlin 2013
Das Dickicht (2014, Tropen)
Die Hap & Leonard-Romane:
Wilder Winter – 1. Band der „Hap & Leonard“-Krimireihe (2006, Shayol; Neuauflage 2014 im Golkonda-Verlag)
Texas Blues – 2. Band der „Hap & Leonard“-Krimireihe (Originalausgabe: Mujo Mojo, 1994. Deutsche Veröffentlichung 1996 im Rowohlt-Verlag, Neuauflage 2015 als Mucho Mojo im Golkonda-Verlag)
Mambo mit zwei Bären – 3. Band der „Hap & Leonard“-Krimireihe (Two-bear Mambo, 1995. Deutsche Veröffentlichung 1997 im-Rowohlt Verlag)
Schlechtes Chilli – 4. Band der „Hap & Leonard“-Krimireihe (2012, Dumont)
Rumble Tumble – 5. Band der „Hap & Leonard“-Krimireihe (2007, Shayol)
Machos und Macheten (Captains Outrageous) – 6. Band der „Hap & Leonard“-Krimireihe (2014, Golkonda-Verlag, deutsche Erstausgabe)
Das Dixie-Desaster (Vanilla Ride) – 7. Band der „Hap & Leonard“-Krimireihe (2015, Golkonda-Verlag, deutsche Erstausgabe)
Zur Verfilmung als TV-Serie siehe hier.