Vladimir Nabokov: „Pale Fire“ (1962)
– Klassiker lauern auch da, wo man sie nie vermutet. Das schmälert ihren Rang wahrlich nicht. Henrike Heiland über einen besonders spannendes Beispiel für Kriminalliteratur, außerhalb des Kennzeichnungs-Geheges.
Vermutlich ist es ein deutliches Zeichen des Älterwerdens, wenn man immer wieder dieselben Anekdoten aus dem Studium hervorkramt, aber diese finde ich nach wie vor ganz wunderbar: Der Professor hatte uns Nabokovs „Pale Fire“ auf die Leseliste gesetzt und wollte sich mit uns darüber unterhalten. Von den zwanzig Seminarteilnehmern gab es allerdings nur drei, die wussten, wovon der Professor sprach. Die anderen machten Gesichter, als wären sie aus Versehen im Altgriechischkurs gelandet. Sie fingen panisch an, in ihren Ausgaben zu blättern und zu flüstern: „Ich versteh das nicht, ich hab es doch gelesen, warum versteh ich das nicht?“ Der Professor ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Erst nach einer Stunde hob er seufzend die Augenbrauen und sagte: „Immer wieder schön zu sehen, wer von Ihnen Vorwörter liest.“
Er gab das Seminar natürlich nicht zum ersten Mal, und er hatte schon damit gerechnet, dass genau das passieren würde. Es war ihm übrigens egal. Seine Art, die Literaturstudentinnen und -studenten dazu zu bringen, auch Paratexte kritisch wahrzunehmen. Oder überhaupt wahrzunehmen.

Vladimir Nabokov
Die Sache mit „Pale Fire“ ist nämlich die: Das Buch besteht aus einem 999 Zeilen langen, vierteiligen Gedicht in paarweise gereimten jambischen Fünfhebern, einem Vorwort des Herausgebers, einem Namensregister und über zweihundert Seiten Anmerkungen. Klar, dass da der aufgeweckte Literaturstudent sagt: Spar ich mir den Scheiß, les ich nur das Relevante. Und das wird ja wohl das Gedicht sein.
Was der aufgeweckte Literaturstudent dabei leider übersieht und dadurch verpasst, ist die eigentliche Geschichte. Die wird nämlich in den vermeintlichen Paratexten erzählt. Aber der Reihe nach, worum es im Buch eigentlich geht: Das titelgebende Gedicht Pale Fire wurde von Professor John Shade vom Lehrstuhl für englische Literatur an der Uni von New Wye verfasst. Shade ist Pope-Experte, und seine durchaus bräsige Dichtung, in der es u. a. um den Selbstmord seiner Tochter Hazel geht, kommt auch im Pope-Stil daher. Leider wurde Shade erschossen, bevor er sein Werk beenden konnte. Der Herausgeber Charles Kinbote, Nachbar und Kollege Shades, ist nach Shades Ermordung mit dem Manuskript geflohen. In unverhältnismäßig vielen Anmerkungen erzählt er dem Leser nicht besonders viel über das Gedicht, dafür umso mehr über King Charles II, „The Beloved“, der aus seinem Königreich Zembla fliehen musste, nachdem es eine durch die Russen unterstützte Revolution gab. Kinbote, der Shade von dieser Geschichte erzählt hatte, findet es nur offensichtlich, dass Shade darauf angespielt haben muss.
Die Geschichte wird noch viel verrückter. Aber das eigentlich Verrückte ist die Erzählweise, wie alles kreuz und quer in Anmerkungen, Register und Vorwort vorangetrieben wird. Wie man alles linear oder auch bunt durcheinander lesen kann. Wie hier natürlich auch mit der Eitelkeit derer gespielt wird, die die Paratexte verfassen – in diesem Falle Akademiker, die den Text interpretieren und den Leser in eine bestimmte Richtung schicken. Man kann es gedanklich ausweiten auf Lektoren und Marketingmitarbeiter, die Umschlags-, Klappen-, Katalogstexte usw. verfassen und ebenfalls stark Einfluss nehmen (wollen). Man kann es noch weiter treiben und an die Bücher denken, über die man sich so gerne und viel unterhält, ohne sie wirklich gelesen zu haben. Hegemann. Roche. Thilo Wiehießerdochgleich.
Interessant auch der Aspekt, dass der Autor seinen Lesern überlässt, in welcher Reihenfolge sie sein Buch lesen. Einen Roman liest man von vorne nach hinten, der Autor steuert so die Aufmerksamkeit – oder hofft es zumindest. Aber bei „Pale Fire“ ? Man wird immer wieder zum Kreuz- und Querlesen ermuntert. Bis man irgendwann den Überblick verloren hat, ob man nun wirklich jede Anmerkung gelesen hat. Also geht man noch ein paar Punkte zurück, liest einiges doppelt, blättert vor, stöbert im Register. Und bewegt sich doch immer noch in der Welt des Autors, ist immer dort, wo er einen haben will.
Dieses scheinbar chaotische, jedoch in Wirklichkeit streng durchdachte Geflecht aus den frühen 60er Jahren kann man sich wunderbar als enhanced e-book vorstellen. Hätte Nabokov damals die Möglichkeit gehabt – wer weiß? Links auf nur scheinbar seriöse Quellen. Jeder Zeitungsartikel, jedes Video, zu dem man geschickt wird, ist Teil der Fiktion. Eine alternate reality.

e-book oder Verzettelung - die extravagante Neu-Edition von Gingko Press.
Nabokov wurde hochgejubelt und niedergemacht für „Pale Fire“, wie hätte es anders auch sein sollen. Bei all dem Gejammer, das immer wieder aufkommt, heutzutage seien neue Bücher doch nur Flickwerk aus Altbekanntem und ach so vorhersehbar, bei all dem Gejammer also ist „Pale Fire“ ein großartiger Erholungsurlaub für angerostete Denkmuster. Was übrigens für Lesende wie auch Schreibende gilt, nebenbei bemerkt.
Henrike Heiland
Gesammelte Werke. Band 10: Fahles Feuer: Herausgegeben von Dieter E. Zimmer. Deutsch von Uwe Friesel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 2.Auflage 2008. 608 Seiten. 28,00 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
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