Geschrieben am 5. Januar 2009 von für Bücher, Litmag

L.P. Hartley: The Go – Between

Ein Sommer, eine Schuld

Fremdsprachige Buchtitel werden oft nicht übersetzt, sondern überdichtet. Hartleys Roman trat als Der Zoll des Glücks vor deutsche Leser, das war 1955 und wir lassen es lieber unkommentiert. Jetzt heißt die Neuausgabe wie das Original The Go-Between, und mit Recht. Kein Begriff könnte plastischer ausdrücken, was der Protagonist Leo Colston tut: Er geht zwischen einem Mann und einer Frau hin und her. Von Gisela Trahms

Die Geschichte spielt 1900, im ersten Sommer des neuen Jahrhunderts, auf das sich so viele Hoffnungen richten. Auch der zwölfjährige Leo glaubt an den Anbruch einer neuen Zeit. Zum ersten Mal verbringt er die Ferien nicht in seinem bescheidenen Zuhause, sondern folgt der Einladung seines Schulfreundes Marcus nach Brandham Hall, dem prächtigen Landsitz, den Marcus’ reiche Familie gemietet hat. Man lebt in großem Stil: Gäste kommen und gehen, Ausflüge und Picknicks werden veranstaltet. Als Marcus an Masern erkrankt, muss sich Leo allein in dieser verwirrenden Welt zurechtfinden, zwischen lauter Erwachsenen, deren Scherze er nicht versteht und deren Verhaltenscodes ihm rätselhaft bleiben. Nur Marian, Marcus’ ältere Schwester, scheint Interesse und Gespür für Leos Gefühle zu haben, sie nimmt ihn in Schutz und fährt sogar mit ihm in die Stadt, um ihm leichtere Kleidung zu kaufen, denn der Sommer ist heiß…

Tut sie das wirklich nur aus Freundlichkeit? Ist da nicht eine Bewegung, ein Schatten, ein Gruß?

Auf seinen einsamen Streifzügen durch die Umgebung des Herrenhauses gerät Leo auf einen Bauernhof, den der Pächter Ted Burgess allein bewirtschaftet. Er fragt Leo, ob er nicht einen Brief an Marian überbringen könne? Aber bitte so, dass es niemand sieht?

Damit wird Leo zum Go-Between zwischen Ted und Marian, Schloss und Dorf, Armut und Reichtum. Das Telefon existiert noch nicht, neugierige Augen lauern überall, die Standesunterschiede gleichen eisernen Barrieren – nur Leo bewegt sich frei und kaum beachtet von einer Person zur anderen, von einem Milieu zum nächsten. Erst voller Eifer, aus Liebe zu Marian und Lust an der Geheimniskrämerei, dann immer unwilliger, schließlich verzweifelt, denn er ahnt die Katastrophe, auf die dieser Sommer zusteuert, während die Hitze Tag für Tag steigt…

L. P. Hartleys Roman erschien 1953. Der über sechzigjährigen Leo erzählt darin selbst, was ihm vor so vielen Jahren geschah. Seine Rückschau beginnt mit dem in England sprichwörtlich gewordenen Satz: „The past is a foreign country; they do things differently there.” Schon aus der Perspektive der Fünfziger Jahre war ja die Welt von 1900 tiefe Vergangenheit, zwei Weltkriege hatten sie unwiderruflich zerstört. Von heute aus rutscht die Geschichte noch ein paar Klafter tiefer, nicht nur, weil Standesunterschiede selbst in England an Relevanz verloren haben, sondern Leos wegen.

Leo ist der Augapfel seiner verwitweten Mutter, er lebt im Internat und ist trotz einer Neigung zu Phantastereien durchaus in der Lage, soziale Mechanismen zu begreifen und sein Verhalten danach auszurichten. Aber die komplexen Beziehungen der Bewohner von Brandham Hall überfordern ihn. Und worüber er sich vergeblich den Kopf zerbricht, was ihn aber brennend interessiert, ist die Beziehung zwischen Ted und Marian. Was steht in den Briefen? Was tun die beiden bloß miteinander? Was bedeutet jenes „poussieren“, über das ihm niemand klare Auskünfte geben will?

Ein solches Maß an Unwissenheit bei einem Zwölfjährigen ist heute unvorstellbar. Dennoch bleibt die Geschichte faszinierend. Denn Leo ist ja kein Dummkopf. Immer quälender spürt er, dass er benutzt wird und dass das, was er tut, nicht fair ist weder Marians Eltern gegenüber noch gegenüber dem freundlichen Lord Trimingham, dem Brandham Hall gehört und der Marian heiraten möchte, worin sie eingewilligt hat, trotz der Narben, die sein Gesicht entstellen. Und das, was Leo wissen will, weiß ein Zwölfjähriger zwar heute längst, aber es ist ja dennoch nicht das „Eigentliche“. „Wissen“ bedeutet im Bereich Sexualität „Selbst Erleben“, und das Verlangen danach kann heute genauso brennen und drängen wie damals.

Doppelte Perspektive des kindlichen und des altersweisen Leo

Ehe er zu erzählen begann, war Hartley Literaturkritiker. Er wusste, wie man Spannung aufbaut, lockert und wieder intensiviert und welche Möglichkeiten die doppelte Perspektive des kindlichen und des altersweisen Leo bietet, die er meisterlich miteinander verwebt. Der Leser durchschaut ja vieles eher als Leo, aber da er keine zusätzlichen Informationen erhält, z.B. nie erfährt, wie sich die Beziehung von Marian und Ted überhaupt anbahnte, umgibt alle Figuren eine Aura des Geheimnisvollen, jede behält ihr eigenes Recht, niemand wird verurteilt.

Außerdem – und auch das wusste Hartley nur allzu genau – muss ein Roman durch Motive und Querverweise seinen eigenen Bedeutungsraum konstruieren. So erinnert Marian an die gleichnamige, unerschrockene Liebste von Robin Hood, sie schenkt Leo einen grünen Anzug und macht ihn damit zu einer Art Pagen-Robin, aber sie ist auch, in Leos astrologischen Träumereien, die Jungfrau des Tierkreises, die den Wassermann liebt, Ted, den wir als Schwimmer kennen lernen, fast nackt und von betörender Physis, während die unansehnliche upper class bis zum Hals zugeknöpft in den Fluss steigt…

Manchmal sind diese Konstruktionen und Symbolismen allzu sichtbar und ihre Gelenke knirschen ein wenig. Aber das mindert nur selten den Zauber, die erotisch aufgeladene Atmosphäre, die nicht, wie heute, auf Freizügigkeit beruht, sondern auf dem Verbot und der Unmöglichkeit dieser Liebe, auf dem Begehren, dem Ted und Marian folgen, obwohl sie sich schuldig machen und auch ihren Go-Between in die Schuld hineinreißen und schädigen fürs Leben.

Hartley schreibt so anschaulich, dass man den englischen Rasen, die Kleider und Hüte der Damen, die weißen Hosen der Männer beim Cricket wirklich sieht, das Heu riecht, die betäubende Hitze spürt. Joseph Losey machte (nach einem Drehbuch von Harold Pinter) einen Film mit Julie Christie und Alan Bates daraus, der in Cannes 1972 die Goldene Palme gewann und ein so großer Publikumserfolg wurde, dass Rolf Vollmann in der ZEIT die Befürchtung aussprach, der Ruhm des Films könne den des Buches verdunkeln. Doch diese Sorge ist unbegründet. Das Buch, 400 Seiten stark, verlangt naturgemäß einen etwas längeren Atem. Aber es belohnt mit einer Fülle psychologischer Details und glanzvoller Formulierungen, die den Leser hinreißen.

Hartley blieb, trotz zahlreicher weiterer Romane, der Mann des einen, einzigartigen Buches, das der Schweizer Verlag Edition Epoca nun in einer revidierten Übersetzung und mit dem einfühlsamen Vorwort von Colm Tóibín neu herausbrachte, nachdem es jahrelang vergriffen war. Einmal las ich während einer Zugfahrt in der Penguin-Ausgabe, und als der Zug in einen Bahnhof einrollte, erhob sich mein männliches Gegenüber, blickte mich beinahe drohend an und sagte, schon halb aus der Tür: “THIS IS A VERY GOOD BOOK!“
Yes, it is.

Gisela Trahms

L.P. Hartley: The Go – Between. Übersetzt von Maria Wolff, revidiert von Adrian Stokar. Edition Epoca, Zürich 2008. 400 Seiten. 24,90 Euro.