Einblicke in den Abgrund
‒ Leila Guerrieros Reportagen legen den Finger in die zahllosen Wunden unserer Gesellschaft. Von Andreas Pittler
Auch Südamerika hat sein NS-Problem. Das sogar noch weit aktueller ist als das unsere, da die faschistischen Diktaturen in Lateinamerika noch bis in die 80er Jahre an der Macht waren. Jorge Videla, Augusto Pinochet, Alfredo Stroessner und Konsorten mochten vielleicht keinen Holocaust angerichtet und keinen weltumspannenden Krieg vom Zaun gebrochen haben, doch das Leid, das sie ihren eigenen Völkern zufügten, reicht allemal. Allein in Argentinien sind bis zu 50.000 Menschen dem rechten Terrorregime zum Opfer gefallen, und hinter jedem Ermordeten steht eine ganz persönliche Geschichte, stehen Hinterbliebene, steht die Frage, warum es bis heute keine Gerechtigkeit gibt.
In Leila Guerrieros Sammelband „Strange Fruit“ begegnen wir diesem Thema gleich mehrfach. Sie berichtet von den Müttern (und Großmüttern) der Verschwundenen, die sich in Buenos Aires zusammenfanden, um Aufklärung über das Schicksal ihrer Angehörigen zu verlangen, sie erzählt von engagierten Christen, die im Zuge eines vermeintlichen „Kampfes gegen den Kommunismus“ verfolgt, inhaftiert und ermordet wurden (wo war da eigentlich der heutige Papst Franziskus?), und sie bittet eine Anthropologin vor den Vorhang, die es sich zum Ziel gesetzt hat, den vielen, vielen namenlosen Opfern der diversen Juntas durch die Analyse der Knochen in den Massengräbern wenigstens posthum ihre Identität zurückzugeben.
Guerriero lässt uns freilich nicht ganz verzagt zurück, denn am Beispiel des größten illegalen Marktes in ganz Südamerika, „La Salada“, zeigt sie auf, wie das Volk gelernt hat, sich effizient gegen die Unzulänglichkeiten der westlichen Demokratie zu wappnen. Projekte wie dieses, das so groß gewordenen ist, dass sich die besoldeten Hüter der kapitalistischen Ordnung dort nicht einmal in Bataillonsstärke hinwagen, zeigen, dass den Menschen doch die Kraft gegeben ist, sich gegen die Willkür neoliberalen Wahns erfolgreich zu organisieren. Und vielleicht ist „La Salada“ ein Beispiel, von dem man in Griechenland, Portugal, Spanien und all den anderen europäischen Ländern, die von der Profitgier einiger Weniger ruiniert wurden, lernen könnte.
Es sind also die Artikel über ihre engere Heimat, die dieses Buch wertvoll machen. In Mitteleuropa hat man meist nur eine sehr vage Vorstellung über die Zustände jenseits des großen Ozeans, und nur allzu gern ist man hierorts bereit, soziale Missstände in jener Region (man denke an Brasilien und den dortigen Umgang mit den Armen angesichts der bevorstehenden Fußball-WM) zu ignorieren. An dieser Stelle ist Guerrieros „Strange Fruit“ ein notwendiges, ein unverzichtbares Werk, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist.
Doch diese Reportagen nehmen nur rund die Hälfte der Seiten ein. Aufgefüllt wird die Publikation mit, ja, Allerweltstories. Da ist ein Mediziner, der sich für Freddie Mercury hält, eine „Schönheitsberaterin“, die im Verkauf von Antifaltencreme die Lösung aller Probleme sieht, da erfahren wir, wie Mario Vargas-Llosa seinen Tag organisierte, und da können wir Guerriero über die Schulter sehen, wie sie sich durch Zimbabwe bewegt. Diese Geschichten kennt man aus zahllosen deutschsprachigen Illustrierten, und dort hat man sie vielleicht sogar informativer und für die deutsche Leserschaft besser aufbereitet gelesen – wenn man derlei Marginalien nicht ohnehin desinteressiert überblättert.
Diese Schwäche des Buches kann man freilich nicht der Autorin anlasten, die ja diese Artikel für ihren Markt schrieb (die meisten der in „Strange Fruit“ enthaltenen Texte erschienen zuerst in diversen argentinischen Magazinen). Vielmehr stolpert man über die Notiz im Vorblatt: „Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eine gekürzte Fassung“. An dieser Stelle würde man nun gern das 2009 in Argentinien erschienene Original kennen, denn vielleicht enthielte es weitere Auseinandersetzungen mit Lateinamerika, die dem vorliegenden Werk fraglos dienlicher gewesen wären als die oben erwähnten Gelegenheitszeilen. So aber hat der deutsche Verlag eine Chance verpasst. Bei der Lektüre bleibt passagenweise ein schaler, ja fast ärgerlicher Nachgeschmack, den sich die Autorin nicht verdient hat, die mit ihren Werken nicht nur beweist, dass sie eine exzellente Journalistin ist, sondern auch, dass sie eine klare und engagierte Haltung einnimmt. Und von solchen Publizisten kann es gar nicht genug geben.
Vielleicht aber begreift Ullstein das Potential, das in einem solchen Buch steckt: Veröffentlichte man auch Reportagen aus Osteuropa, aus Asien, aus Afrika, verfasst von ähnlich guten Federn wie jener von Guerriero, welcher Gewinn für die deutschsprachige Leserschaft wäre das!
Andreas Pittler
Leila Guerriero: Strange Fruit (Frutos extraños. Crónicas reunidas 2001-2008.). Aus dem Argentinischen übersetzt von Kirsten Brandt. Berlin: Ullstein-Verlag 2014. 267 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autorin.