Geschrieben am 6. März 2006 von für Bücher, Crimemag

Leonardo Padura: Das Meer der Illusionen

Revolutionsschicksale

Wer Havanna einmal bereist hat, ist von der morbiden Schönheit der kubanischen Hauptstadt fasziniert. Wer dort geboren ist und hinter die bröckelnden Fassaden zu schauen vermag, verzweifelt an dem nachrevolutionären Verfall oder schreibt darüber so intelligente und poetische Kriminalromane wie Leonardo Padura. Im letzten Band seines „Havanna-Quartetts“ hat es Mario Conde mit dem grausamen Mord an einem geldhungrigen Revolutionsfunktionär zu tun.

Teniente Mario Conde ist beileibe kein abgebrühter oder technokratischer Kriminalist. Er ist alkohol- und sexsüchtig, melancholisch und zuweilen ziemlich sentimental. Mit knapp 36 Jahren entschließt er sich, seinen Dienst zu quittieren und sich ganz dem Rum und der Schriftstellerei hinzugeben. Doch daraus wird so schnell nichts. Denn Korruption und Amtsmissbrauch haben sich in den letzten Jahren in seiner Dienstelle breit gemacht. Und nun übt sein neuer Chef revolutionären Kehraus. Entlässt unzählige Kommissare und ist auf die letzten „sauberen“ Ermittler angewiesen, zu denen natürlich auch El Conde zählt.
Deswegen lässt sein kriminalistisch recht unbedarfter Vorgesetzter den nach persönlicher Freiheit dürstenden Conde zappeln. Entlassungsurkunde gegen Aufklärung eines brisanten Mordfalls. So der Deal zwischen den beiden. Miguel Forcade, ehemals hohes Tier der kubanischen Enteignungsbehörde, hatte sich Ende der 1970er Jahre in die USA abgesetzt und taucht jetzt als entmannte Leiche an der Küste Havannas wieder auf. Lediglich drei Tage stehen dem leicht erregbaren Kommissar zur Verfügung, um den Täter ausfindig zu machen und den wohlverdienten Ruhestand genießen zu dürfen.
Ein Mann, der die kubanische Bourgeoisie ihres wertvollen Eigentums beraubt hat und auch gegenüber den eigenen Genossen nicht zimperlich war, hatte eine Menge Feinde. Kein Wunder, dass Conde in der revolutionären Vergangenheit des Opfers auf vermeintlich verwertbaren Spuren stößt. Doch nicht nur die ehemaligen Weggefährten sind schlecht auf den Toten zu sprechen, sondern auch Teile seiner in Havanna weilenden Verwandtschaft. Ins Fadenkreuz seiner intuitiv geführten Ermittlungen geraten die junge Witwe des Ermordeten, Miriam, deren Bruder Fermín und ihr einstiger Liebhaber Adrián. Doch auch ihnen kann er kaum etwas nachweisen, ohne vorher die wahren Gründe für die Rückkehr des ehemaligen Revolutionsfunktionärs herausgefunden zu haben.

Verliebt in seinen Helden

Die ihm eher beiläufig von Forcades Vater zugetragene Geschichte von einer goldenen Buddha-Statue führt Conde auf die Spur des Mörders, dessen Tatmotive am Ende banaler sind als vom Leser bis dahin angenommen. Die Verhaftung und das Geständnis sind danach nur noch Formsache. Und auch das Rätsel um die dilettantisch versteckte Tatwaffe und die Entmannung des Opfers werden sehr rasch und wenig plausibel von Padura aufgelöst. Dafür konzentriert sich der Autor auf den letzten 25 Seiten umso emphatischer auf das Schicksal seiner Hauptfigur.
Denn der ursprünglich für seine sozial- und literaturkritischen Texte bekannte Autor legt weder auf die Konstruktion eines fein gesponnenen und raffiniert durchgeführten Verbrechens noch auf die rational-genialische Aufklärung des Kriminalfalls großen Wert. Dem gebürtigen Kubaner liegen Land und Leute am Herzen. Besonders verliebt ist er in seinen Helden, über dessen Seelenqualen, intime Wünsche und Erinnerungen wir fast mehr erfahren, als über das kriminelle Geschehen.
El Conde ist eine zutiefst gebrochener Charakter, der sich der Verbrechensaufklärung zugewandt hat, um der ersehnten, aber in letzter Konsequenz doch als qualvoll empfundenen Normalität zu entfliehen. Seelische Balance und privates Glück scheinen ihm auch nach der Auflösung des Falls verwehrt. Allein in der literarischen Verarbeitung seines Schicksals meint er am Ende des Romans, sein „verpfuschtes Leben“ und das seiner Generation rechtfertigen bzw. in idyllischeren Farben malen zu können.
Genau das hat Padura in seinen Havanna-Romanen glücklicherweise nicht getan, sondern eine kritisch-literarische „Analyse der kubanischen Gesellschaft“ vorgenommen. Sein Protagonist El Conde steht exemplarisch für eine Generation, die die Revolution nicht initiiert, sondern im Nachhinein auszubaden hat. Die schmerzhaften Nachwehen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen sieht der Leser durch die Brille des Künstler-Kommissars Mario Condo. Und er erhält ebenso schonungslose wie einfühlsame Einblicke in die Vergangenheit und Gegenwart Kubas.
Padura überschreitet mit seinen poetischen Kriminalromanen die stilistischen und inhaltlichen Grenzen des Genres. In „Das Meer der Illusionen“ werden die Wunsch- und Trugbilder seiner Generation genauso grell ausgeleuchtet wie die sie verzehrenden Verbrechen. Schicksale und Spannung, entfaltet auf hohem literarischen Niveau.

Jörg von Bilavsky

Leonardo Padura: Das Meer der Illusionen. Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein. Unionsverlag, Zürich 2005. Gebunden. 284 Seiten. 19,90 Euro. ISBN 3-293-00324-9