Aus Zeit und Raum gefallen
Leonid Zypkin hat zu Lebzeiten keine einzige Zeile seiner zahlreichen Gedichte, Novellen oder Prosastücke veröffentlicht gesehen. Mit Inbrunst schrieb der 1926 als Kind russisch-jüdischer Eltern geborene Mediziner unter einem repressiven Regime unverdrossen für die Schublade. Jetzt ist sein Roman „Ein Sommer in Baden Baden“, den Susan Sontag zu den „schönsten, anregendsten und originellsten Werken des vergangenen Jahrhunderts“ zählt, erstmals ins Deutsche übersetzt worden.
„Ein Sommer in Baden Baden“ erzählt die Geschichte des 1867 mit seiner Frau Anna Grigorjewna nach Deutschland reisenden Fjodor Dostojewski und auch die Geschichte des unbenannt bleibenden Ich-Erzählers selber. Dieser reist auf Dostojewskis Spuren vor einer in der Dunkelheit verschwimmenden Landschaft mit dem Zug nach Leningrad und blättert im Tagebuch der Anna Grigorjewna. Im Folgenden erzählt er von seiner gegenwärtigen Reise, seiner Vergangenheit und imaginiert zugleich die Reise und die Vergangenheit der Dostojewskis. Verfolgt von Gläubigern und einer missgünstigen Verwandtschaft reisen diese in entgegengesetzter Richtung von Petersburg nach Baden Baden. Anna Grigorjewna, die als Stenotypistin beim berühmten Schriftsteller angeheuert hatte und ihn schließlich heiratete, ist voller Hoffnung und glaubt mit dieser Reise „beginne für sie beide ein neues Leben.“
Zerrissenes (Ehe-) Leben
Doch dieses (Ehe-) Leben ist zerrissen zwischen einer bedingungslosen Hingabe, ständigen Geldnöten und der Spielsucht Dostojewskis. Nach anfänglichem Gewinn wird peu á peu alles verspielt und verpfändet und es beginnt ein atemberaubender Fall und Verfall: „all das erinnerte an eine Zwangsneurose, eine Verfassung, in der jeder neu unternommene Versuch mit einem noch größeren Misserfolg endet, das Verlangen, es erneut zu versuchen, indessen noch unbezähmbarer wird…“
In einer assoziativen, temporeichen und aus endlos lang dahinrauschenden Sätzen bestehenden Prosa wechselt Leonid Zypkin beständig die Zeit- und Raum-Ebenen sowie Erzählperspektiven. Der Erzähler, die historische Gestalten und Dostojewskis Romanfiguren verwirbeln ineinander und es entsteht ein Erzählstrom, in dem Realität und Fiktion ununterscheidbar verschwimmen. Bei aller Empathie und allem Respekt vor dem historischen Vorbild wird Dostojewski dabei auch als ein Mensch gezeichnet, der mit Minderwertigkeitskomplexen beladen und cholerisch ist und der in seinen Werken einen erschreckenden Anti-Semitismus offenbart.
Zypkins Ende der 70er Jahre entstandener Roman ist eine frappierende Entdeckung und scheint trotz vieler Anklänge an die modernen und auch postmodernen Literaturströmungen wie ein geheimnisvoll glänzender und fremd anmutender Meteorit aus Zeit und Raum gefallen zu sein.
Karsten Herrmann
Leonid Zypkin: Ein Sommer in Baden Baden. Mit einer Einführung von Susan Sontag. Aus dem Russischen von Alfred Frank. Berlin Verlag, 238 S., 19,90 Euro.