Geschrieben am 1. September 2016 von für Bücher, Litmag

LitBits: Kurze Besprechungen neuer Bücher

LitBits: Kurze Besprechungen neuer Bücher

Emmy Hennings GefängnisFrauenknast

(ZB) Hundert Jahre, nachdem Emmy Hennings das Cabaret Voltaire eröffnete und Dada mitbegründete, schreibt die internationale Presse über Olympiamedaillengewinnerinnen als „Ehefrau von“ und macht sich Gedanken darüber, ob die Sportlerinnen richtig angezogen sind. Emmy Hennings war auch Jahrzehntelang in der Wahrnehmung häufig nur die „Ehefrau von“, und die Erwähnung ihres Lebenswandels erschien in vielen Beiträgen wichtiger als die Beurteilung ihres künstlerischen Schaffens. Christa Baumberg und Nicola Behrmann kann deshalb nicht genug dafür gedankt werden, dass sie mit dem Wallstein Verlag eine kommentierte Studienausgabe der Werke und Briefe Hennings‘ herausbringen und die Schriftstellerin nicht in Vergessenheit geraten lassen – als Schriftstellerin, nicht als „Ehefrau von“.

Im ersten Band versammelt sind drei kurze Romane, zu Lebzeiten wurde nur „Gefängnis“ veröffentlicht, die anderen beiden haben ebenfalls diese Institution zum Thema. Hennings selbst saß einmal für einige Wochen ein und beschreibt die Absurdität der bürokratischen Abläufe, die Verachtung des Individuums durch das System, die krankmachende Ignoranz der Gesellschaft. In „Gefängnis“ wird eine junge Frau zur Sicherheit eingesperrt, nur weil sie sich erkundigt hat, ob sie vor ihrer bevorstehenden Gerichtsverhandlung ein paar Tage verreisen dürfe. Die Frauen, auf die sie während ihrer Inhaftierung trifft, die Charaktere, die auf der vermeintlich anderen Seite stehen, sozusagen zu den Unschuldigen, den Anständigen gehören – all das ergibt ein beeindruckendes gesellschaftliches Panorama, wie man es  in dieser Form kaum kennt.

Expressiv und introspektiv erzählt sie vom Frauenknast, das ist beeindruckend, selten und wichtig, dazu noch gute Prosa, beklemmend, atemberaubend, verwirrend, kurz: zeit- und literaturgeschichtlich relevant.

Emmy Hennings: Gefängnis – Das graue Haus – Das Haus im Schatten. Aus der Reihe: Emmy Hennings. Werke und Briefe. Kommentierte Studienausgabe. Herausgegeben von Christa Baumberger und Nicola Behrmann. Unter Mitarbeit von Simone Sumpf. Mit einem Nachwort von Christa Baumberger. (Hg. i.A. des Schweizerischen Literaturarchivs und des Vereins zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs); Bd. 01. Wallstein Verlag, 576 S., € 24,90.

Jan Lindner Auf Teufel komm RauschÜppig, bunt, absurd

(AK) Dem „großen Kakadu“ zu opfern, auf dass er das Volk vor dem Untergang bewahre, ist eine Möglichkeit, mit Angst und Unsicherheit in fragilen Zeiten umzugehen, wenn vielleicht keine recht gelungene, wie man der ersten Geschichte in Jan Lindners gerade erschienen Erzählband entnehmen kann. Zur Vorsorge vor Ungemach stellt der Autor „Sieben deftige Gründe, warum man nicht mit Brot über die Straße gehen sollte“ zur Verfügung, außerdem berichtet er über den katastrophalen Spielverlauf „Eintracht Prügel vs. Hangover 96“, die „Im Eifer des Gezechs“ aneinander geraten. Schon die Titel der Erzählungen versprechen Absurdes – und sie enttäuschen nicht. Da wird Mareike von einer Matrjoschka mit Tierornamentdekor auf einem Jahrmarkt entzückt und ihr Papa verwandelt sich für sie in jedes Tier, das die Kleine in ihm sehen mag. Wenn das keine Liebe ist?

Die Liebe windet sich als „roter Faden“ (S. 53 „Der rote Faden“) durch Jan Lindners groteske Miniaturen, auch in der Geschichte von „Leilah“, einer alltäglichen Begebenheit eigentlich: Der Erzähler zieht mit seiner Peergroup um die Häuser und schwärmt, sich selbst vergessend, für die Schöne – romantisch geradezu. Konsequenterweise nutzt der Autor einen Duktus, der in der Romantik zu verorten ist, nicht ohne ihn ironisch zu brechen. Ein Beispiel: „Einige wenige Stunden werde ich die Gunst meines Bettes genossen haben, als mich Etienne via Handy am frühen Nachmittag aus dem Tiefschlaf riss, um mich darüber in Kenntnis zu setzen, dass wir es bei diesen gar herrlichen Wetterverhältnissen keineswegs versäumen sollten, unsere verkaterten Ärsche in den Park zu bewegen.“

Nicht nur spaßeshalber wird der leicht angestaubt und dadurch komisch wirkende Stil bemüht, bedenkt man, dass die Groteske auch in der Romanik wurzelt. Wie Inhalt und Form sich kunstvoll verweben lassen, hat Jan Lindner bereits in seiner brillanten Sonettsammlung „Der Teddy mit den losen Kulleraugen“ gezeigt.

In den vorliegenden Geschichten findet sich Alltagstragik und Philosophisches. In „Der kolorierte Trunkenbold“ stellt sich die Frage: Wie konturiert sich das Selbst in Raum und Zeit? So spröde die Fragestellung klingen mag, so opulent ist sie in Nebel und Rausch verhüllt, um schließlich zauberisch freigelegt zu werden.

Komische, irritierende Wortspiele und Phrasen, die knapp neben dem zu Erwartenden aufsetzen, kommen wunderbar schräg und durchaus erhellend daher.

Selbstverständlich darf man das Bändchen mit seinen fein ziselierten, dunkelbunten Erzählungen überall auf der Welt lesen. Aber den größten Genuss wird man erlangen, blättert man in lauschiger Frühlingsnacht unter einem Flieder im Leipziger Klara-Zetkin-Park darin. Mit ´ner Pulle „Sternburger“ in der Hand versteht sich.

Jan Lindner, Auf Teufel komm Rausch, Erzählungen, Edition Subkultur, Berlin 2016, 128 Seiten, 9,99 Euro

LitBit_Foucault_Cover_58686Der Horizont des Fleisches und das Politische

(AM) Foucault-Leser muss man sich als glückliche Menschen vorstellen. 1984 gestorben, wird kaum ein Philosoph der jüngeren Zeit editorisch so sorgfältig betreut. Immer noch gibt es dabei Überraschungen und neue Glücksbringer. Nun also „Subjektivität und Wahrheit“ – nach „Die Strafgesellschaft“ im vergangenen Jahr, Foucaults rekonstruierten und kommentierten Vorlesungen am Collège de France 1972-1973, deren Ziel ihm weniger der Kriminelle als der innere Feind war. Ein Jahrzehnt später befand Foucault sich an einem Wendepunkt seiner Forschungen. Er fragte sich: „Was geschah während des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung am Übergang von einer paganen zu einer christlichen Moral?“
In den zwölf, von Januar bis April 1981 am Collège de France gehaltenen Vorlesungen geht es um eine Untersuchung der Geschichte der Selbsterkenntnis in ihren verschiedenen Formen. Wie wurden die Erfahrungen, die man von sich selbst machen kann, und das Wissen, das sich dabei herausbildet, in bestimmte Schemata geordnet? Wie wurde das Subjekt zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen institutionellen Zusammenhängen als mögliches, wünschenswertes oder gar unerlässliches Objekt der Erkenntnis etabliert? Es geht um die Kunst der Regierung des Selbst, die Erfindung des Paares, den Rahmen sexueller Aktivitäten, um Lust und Moral, um den Horizont des Fleisches und das Politische. Entwickelt wurde das alles in der hellenistischen und römischen Zeit, es prägt heute noch die „bürgerliche Moral“.

Foucault untersuchte antike medizinische Schriften und Abhandlungen über die Ehe, die Liebe sowie die Deutung erotischer Träume. Er legte dabei ein Verhältnis des Selbst zu seinen Lüsten frei, das der christlichen Angst vor der Fleischeslust und der Konstruktion einer modernen Sexualwissenschaft vorausging. Eine Einteilung der Geschlechter nach Aktivität und Passivität begann sich bereits im griechischen Denken zu etablieren, schon im Stoizismus des römischen Kaiserreichs entwickelte sich ein Modell der Ehe, das auf lebenslanger Treue basiert, sowie eine Disqualifikation der Homosexualität. Das Christentum dann transformierte diese Formen der Subjektivität und Sexualität zu Objekten des Wissens und einer Moral, die uns bis heute prägt. Die Vorlesungen waren die Vorarbeit für die Bände 2 und 3 von „Sexualität und Wahrheit“ („Der Gebrauch der Lüste“ und „Die Sorge um sich“), sie sind ein bahnbrechendes Werk über die Quellen unseres modernen Selbst.

Michel Foucault: Subjektivität und Wahrheit – Vorlesungen am Collège de France 1980-1981 (Subjectivité et verité. Cours au Collège de France 1980–1981; Paris 2014). Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 416 Seiten, 44,00 Euro.

Elizabeth Porter- Die Sommer der PortersGenerationenroman, brillant erzählt

(UN) Die Porters aus „Die Sommer der Porters“ (Mare Verlag, 22 Euro) sind eine bestens situierte US-amerikanische Familie aus New York, ihre Sommer verbringen sie traditionsgemäß an der Küste, wo sie auf einer verlassenen Halbinsel namens Ashaunt ein Anwesen besitzen. Sommer für Sommer derselbe Ablauf. Im Jahr 1942, in dem dieser Roman beginnt, ändern sich allerdings die Rahmenbedingungen: Die US-Armee baut nebenan einen kleinen Stützpunkt, mit einem Mal herrscht Leben, ein ganz anderes Leben auf Ashaunt; sehr zum Vergnügen der beiden Töchter übrigens. Allerdings ist, wo Stützpunkte gebaut werden, auch der Krieg ganz anders spürbar. Und wie schmerzhaft das sein kann, den Krieg spüren zu müssen, das erfahren die Porters, als die Nachricht eintrifft, dass Charlie, der geliebte, bewunderte große Bruder der Mädchen, in Italien gefallen ist.

Elizabeth Graver, geboren 1964, erzählt diese Zeit der 1940er Jahre aus Sicht von Bea, dem aus Schottland stammenden Kindermädchen, die sich in einen der Soldaten verliebt und am Ende des Sommers entscheiden muss, ob sie ihrem Herzen folgt oder ob sie bei den Porters bleibt. Aber hat sie überhaupt eine Wahl, jetzt, wo Charlie tot ist? Später kommen dann noch andere Sommer der Porters hinzu, aus wechselnden Perspektiven. So entsteht letztlich ein Familien- und zugleich ein Generationenportrait, das die komplette zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts überspannt.

Der erste Teil ist im Grunde eine Novelle, wird aber in den großen Gesamtroman eingewoben, in dem später dann die Lebensgeschichten der Porter-Kinder im Fokus stehen. Ungewöhnliches Konstrukt, funktioniert aber bestens, und im Ergebnis ist „Die Sommer der Porters“ eine packende Saga mit spannenden Charakteren, bei der Licht und Schatten so austariert sind, dass man nie vergisst, dass auch am lichtesten Sommertag Herbst- und Winterstürme meist bloß einen Wimpernschlag entfernt sind.

Elizabeth Graver: Die Sommer der Porters. Aus dem Amerikanischen von Juliane Zaubitzer. 464 Seiten, Mare Verlag, 22 Euro.

LitBit Metzler-deBürgersinn, exemplarisch

(AM) Es gibt, von Bismarck geprägt, das Verb „Metzlern“, das man über Frankfurt hinaus wohl kaum kennen wird. Es ist mit einem kühnen Briefwechsel Emma Metzlers mit dem Reichskanzler und vor allem eng mit dem kulturellen Leben der Mainmetropole verbunden. Heute würde man zu dem seit Generationen von den Angehörigen der Bankiersfamilie von Metzler mit großer Verantwortung und viel Diskretion ausgeübten Tun zum Wohl der Stadt und der Universität vermutlich „Netzwerken“ sagen. Wobei ein hohes Spendenaufkommen noch hinzukommt.
Wer an einer exemplarischen Kulturgeschichte der bürgerlichen Stadtgesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg interessiert ist, findet in dem von der Historikerin Berenike Seib recherchierten und anschaulich geschriebenen Porträt des Frankfurter Bürgers Moritz Schmidt-Metzler (1838 – 1907) eine lohnende und spannende Lektüre. Aus der Kaufmannsfamilie „Tee-Schmidt“ stammend, heiratete er 1863 Mathilde Metzler, deren Namen er fortan führte. Dem Vorbild seines Vaters folgend, studierte er Medizin, bildete sich quer durch Europa fort, befasste sich speziell mit dem Kehlkopf und der laryngoskopischen Diagnostik, der Krebserkennung durch den Kehlkopfspiegel. Er verfolgte einen ganzheitlichen Ansatz und war der Ansicht, dass sich jeder Spezialist auch mit der „hausärztlichen Praxis vertraut machen muss, wenn er nicht in Gefahr geraten soll, über dem kranken Organe den kranken Menschen zu vergessen“. Seine Hausarztpraxis führte er 26 Jahre, ehe seine Fachtätigkeit das nicht mehr zuließ. In Frankfurt hatte er den Beinamen „Hals-Schmidt“. 1887 wurde er zur Behandlung des deutschen Kronprinzen Friedrich, des späteren Kaisers Friedrich III., hinzugezogen, 1903 operierte er Kaiser Wilhelm II. Als mäzenatischer Bürger war er sehr aktiv, folgte dem Vorbild Emma Metzlers beim „Metzlern“.

Als Vorsitzender der Administration der Dr. Senckenbergischen Stiftung leistete er wesentliche Vorarbeit für die (dann 1914 erfolgte) Gründung der Frankfurter Universität und stellte gleichzeitig wichtige Weichen für die Zukunft der Senckenbergischen Einrichtungen, deren bekannteste das wunderbare naturkundliche Senckenberg-Museum ist. Moritz Schmidt-Metzler hat mit diesem schön illustrieren Buch nun – endlich – ein kleines Denkmal. Hoch verdient.

Berenike Seib: Moritz Schmidt-Metzler. Mediziner, Netzwerker, Wegbereiter. Biographienreihe der Goethe-Universität Frankfurt am Main (auch Hrsg.). Klappenbroschur. Societäts-Verlag, Frankfurt 2015. 170 Seiten, mit Illustrationen, 14,80 Euro.

LitBit color_woodcut_vienna_1900_va_int_3d_04646_1606291415_id_1059330Unbekanntes Kapitel der Moderne

(AM) Über Wien und den Jugendstil wissen wir alles? Pustekuchen. Nachträglich sind auch die Fachleute verwundert, dass es diese Lücke so lange gab, aber mit dem Farbholzschnitt Wiener Prägung am Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich bisher noch niemand weiterreichend beschäftigt. Geschweige denn eine Ausstellung mit 240 Exponaten zusammengetragen, wie sie (noch bis zum 3. Oktober 2016) in der Schirn Kunsthalle Frankfurt und dann vom 19. Oktober bis zum 22. Januar 2017 in der Albertina Wien zu sehen ist – oder in diesem opulenten Buch aus dem Taschen Verlag. Max Hollein, 2001 bis 2016 Museumsmann in Frankfurt und seit Juni diesen Jahres Direktor des Fine Arts Museums of San Francisco, hinterlässt eh tiefe Fußspuren und mit diesem, von ihm ermöglichten Werk noch ein schön farbiges I-Tüpfelchen.

Der Jugendstil kam zwar erst spät nach Wien, dann aber umso mehr. Seine spezifische Ausprägung wurde maßgeblich durch die Wiener Secession geprägt, eine Künstlervereinigung aus der Zeit um 1900, die den traditionellen, am Bürgertum orientierten Kunstbegriff ablehnte. Der nach ihr benannte, wuchtig-schöne, an einen Pharaonentempel mit Art-Deco-Einschlag erinnernde Ausstellungsbau am oberen Naschmarkt, 1898 eröffnet, war das Hauptdomizil. „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“, steht dort heute noch über dem Portal.

Das Buch und die Ausstellung leisten wissenschaftliche Pionierarbeit, markieren etwa auch die Verbindungen nach Japan, behandeln die Zeitschriften „Ver Sacrum“ (Heiliger Frühling) und „Die Fläche“, die Propaganda- und Demokratisierungsinstrumente der Bewegung waren. Der Holzschnitt, der mit Albrecht Dürer (geb. 1471) und Lucas Cranach (geb. 1471) einen Höhepunkt und dann wegen der aufkommenden anderen Techniken wie Kupferstich, Radierung und dann Fotografie eine Verdrängung erlebt hatte, war für die Protagonisten der Secession auch ein Mittel der Popularisierung der Kunst. Holzschnittabzüge machten Kunst erschwinglich, machten die „Kunst für alle“-Bewegung sinnlich erfahrbar. Bereits 1871 war in Wien die „Gesellschaft für vervielfältigende Kunst“ gegründet worden.

Rund 240 Werke – auch aus verwandten Techniken wie Linolschnitt oder Scha­blonendruck – geben einen beeindruckenden Überblick, mit welcher Begeisterung damals der Freiraum Holzschnitt erobert wurde. Versammelt sind Tier- und Naturdarstellungen, Porträts, erstaunliche Farbigkeit (etwa bei Carl Mosers bretonischen Impressionen), markante Studien (etwa die von Rudolf Kalvach zum Triester Hafenleben), Muster für Vorsatzpapiere, Kinderbücher, Ausstellungskataloge und eindrucksvolle Kalender. Eine ausführliche Werkliste ordnet die Abbildungen den insgesamt 47 Künstlern zu, die allesamt in Kurzbiografien vorgestellt werden. Ein verdienstvolles Buch.

Tobias G. Natter, Max Hollein, Klaus Albrecht Schröder: Kunst für alle. Der Farbholzschnitt in Wien um 1900. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. Verlag Taschen, Köln 2016. Hardcover , Format 24,6 x 37,2 cm. 420 Seiten, ca. 460 Abbildungen, 49,99 Euro. (Schirn Frankfurt: 35 Euro.)

Fleischfabrik Deutschland von Anton HofreiterAus dem Land der Fleischmafia

(AM) Ja klar, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Deutschen Bundestag und ein Buch über Massentierhaltung und die Agrarlobby, alleine schon diese Ankündigung reicht für gar manche Leser und Konsumenten, um sich wegzudrehen. Danke, hier kaufen wir nichts. Lieber weiter zu Aldi, Lidl, Penny, Real und all den anderen Dumpingstationen für Lebensmittel. Hofreiter schert das so wenig wie die Leute, die sich über seine langen Haare aufregen. Er trägt einfach vor. Und das sogar in einem um Sachlichkeit bemühten Ton.
Wer ein Kompendium sucht, in dem gebündelt und verständlich aufgedröselt wird, was so alles läuft (und oft falsch läuft) in unserem „Ernährungssystem“, findet hier eine Fülle von Informationen. Der Teil mit „Aufbruch in die Agrarwende – hin zu einer grüneren Landwirtschaft“ umfasst nur die letzten 45 Seiten.

Im Jahr 2014 wurden in Deutschland 58,7 Millionen Schweine, 3,5 Millionen Rinder und 729 Millionen Geflügel geschlachtet. Wir sind einer der größten Fleischproduzenten Europas (siehe auch die CulturMag-Reportage „Fleisch, ein Stück Sklavenkraft – Eine Vor-Ort-Recherche im Land der Fleischmafia“), exportieren viele Agrargüter und nehmen in Europa „eine skandalöse Schlüsselposition ein“, meint Hofreiter. Immer wieder bemüht er sich um Differenzierung, beschreibt Bauern und Verbraucher als „Getriebene eines falsch aufgestellten Systems“, betont auch: „DIE Landwirtschaft gibt es nicht. Ich habe mit vielen Landwirten in Deutschland gesprochen, mit großen und kleinen, mit konventionellen und mit ökologisch wirtschaftenden. Viele haben mir gesagt, dass sie so nicht mehr weitermachen wollen. Bislang werden die kleinen und mittleren Betriebe klar benachteiligt. Indem sich der Bauernverband massiv gegen Verbesserungen sperrt, verrät er die Interessen des Großteils seiner Mitglieder.“

Hofreiter wendet sich gegen falsche Allianzen, etwa die staatliche Förderung von Hybridsaatgut, die ausgerechnet die Groß- und Genkonzerne begünstigt und die Konflikte in den Hungerländern mehr verschärft als löst. Wer in jüngster Zeit das „Schweinehochhaus“ in den Fernsehbildern sah und erschrak, oder weiß, dass um kostendeckend arbeiten zu können, 40 Cent pro Liter Milch notwendig wären, viele deutsche Molkereien aber lediglich 28 Cent und weniger pro Liter Milch bezahlen, braucht vor diesem Buch keine Angst zu haben. Und jetzt allen einen guten Appetit.

Anton Hofreiter: Fleischfabrik Deutschland. Wie die Massentierhaltung unsere Lebensgrundlagen zerstört und was wir dagegen tun können. Riemann Verlag, München 2016. 256 Seiten, 19,99 Euro. Verlagsinformationen.

Matt Summel- Wunde PunkteLiterarische Urgewalt

(KH) In seinem furiosen Debüt „Wunde Punkte“ erzählt Matt Sumell in unnachahmlicher Weise die Geschichte des ebenso hassens- wie liebenswerten Aly, der wie eine angestochene Hornisse durchs Leben schießt und absolut keinen Plan für seien Leben und sein Glück hat.

Alys Leben ist von früh an ein einziges Chaos und Desaster: Seine Mutter stirbt früh an Krebs, sein beinamputierter Vater verliert sich in Alkohol und Ritalin. Alby, der nicht so gut mit seinen Gefühlen und Worten umgehen kann, stößt seinen Mitmenschen immer wieder vor den Kopf, bricht Streit vom Zaun, prügelt sich mit Wildfremden ebenso wie mit seiner Schwester. Aber dann kümmert er sich auch wiederum rührend um ein nacktes Vogelbaby, das er in der Garagenauffahrt findet und großzieht.

Im Sinne von Lautréamonts zufälliger Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch schüttelt Matt Sumell die Realität und unsere gewohnten Wahrnehmungsmuster und moralischen Einordnungen übermütig durcheinander.  Das Ergebnis ist ein Feuerwerk grotesker Situationskomik, die den Leser verblüfft und fasziniert.

Erzählt ist die Geschichte in einem Stil, der schnoddrig, brachial, bis zur Schmerzgrenze obszön, aber dann auch immer wieder anrührend und bewegend ist. Ohne Zweifel ist noch vieles unausgereift und allzu beliebig in diesem Roman, aber dieser ungeschliffene Diamant lässt noch einiges von der literarischen Urgewalt Matt Sumell erwarten.

Matt Sumell: Wunde Punkte. Aus dem Amerikanischen von Britt Somann-Jung. S. Fischer. 288 Seiten. 19,69 Euro. 

Elizabeth_Graver_Die Sommer.inddComing of Age-Geschichte in den tiefsten 80ern

(UN) René heißt der Held von André Kubiczeks Roman „Skizze eines Sommers“ (Rowohlt Berlin, 19,95 Euro), er lebt Mitte der 1980er Jahre in Potsdam, ist gerade 16 geworden, und er hat ein Luxusproblem: Sein Vater, wohl ein nicht ganz unwichtiger Funktionär, ist die ganzen Sommerferien über in der Schweiz – Abrüstungsverhandlungen. Weil Renés Mutter schon tot ist, muss, kann, darf der Junge sich die halben Ferien über allein durchschlagen, später soll er zu den Großeltern aufs Land. Aber, immerhin: drei Wochen Freiheit – insoweit man in den 1980ern in der DDR von „Freiheit“ sprechen kann. Und wenn einer, der gerade 16 geworden ist, sich von der Lust auf Liebe gesteuert in diversen Expeditionen auf die erste Suche nach dem anderen Geschlecht macht …

Eine Coming of Age-Geschichte also, angesiedelt in den tiefsten 80ern, unterfüttert mit Indie- und Wavesounds der Zeit, ausgestattet mit einem klasse Arsenal an Figuren – und einem ausgesprochen charmanten „Helden“: René ist ein „Hänger“, ein eigentlich ziemlich netter Kerl hinter etwas griesgrämiger Schale; einer, der seine Geringschätzung des Systems durchs Tragen von Schmuck und alten Anzügen zum Ausdruck bringt, Attributen von „Dekadenz“. Und natürlich durch entsprechende Musik und Lektüre.

Vieles deutet darauf hin, dass diese Geschichte mit ihrem tapsigen Helden stark autobiographisch geprägt ist, also wird’s wohl damals tatsächlich so gewesen sein. (Was, nebenbei und persönlich bemerkt, erstaunlich ist – denn vom Leben eines 16-Jährigen im Westen unterscheiden sich Renés sommerliche Skizzen höchstens graduell.) André Kubiczek, geboren 1969 in Potsdam, Sohn eines Deutschen und einer Laotin, ist jedenfalls ein toller, kleiner Roman gelungen: „Skizzen eines Sommers“ ist licht und leicht und lustig, trotzdem gibt’s auch reichlich Schatten – und die Geschichte stimmt so melancholisch, wie das bei einem guten Sommer-Roman unbedingt der Fall sein muss.

André Kubiczek: Skizze eines Sommers. Rowohlt Berlin 2016. 384 Seiten.19,95 Euro.

LitBit schilderguerillaBurgbesichtigung nur mit Führer

(AM) Nun auch schon seit 1976, vierzig Jahre also, dass Anarcho Gerhard Seyfried uns in seinen Comics und Cartoons von Bonzen, Bullen und Berlinern erzählt, quasi der Loriot der Linken ist. Ein dicker Filzstift genügte ihm früher, und zack hatte der Schönling auf dem Plakat plötzlich Pickel oder ein Hitlerbärtchen, die waschmittelsüchtige, lächelnde Hausfrau eine Zahnlücke oder das Auto am Abschlepphaken auf dem Schild „Ausfahrt freihalten“ eine Polizeisirene auf dem Dach. Ein Strich genügte, fertig war die Schilderguerilla. Im Lauf der Jahre baute Seyfried das auch mit Collagen und dann digital mit Photoshop aus.

Jetzt gibt es das alles gesammelt im Querformat, alles sind es von ihm selbst fabrizierte Originale. Da wird Berlin an die Alpen verlegt oder Nessie in der Seine mitten in Paris gesichtet. Mit Farbe besudelte Polizisten stehen nicht vor einem zu stürmenden Haus, sondern vor einer Schnellreinigung. Ein Leihhaus wird mit anderen Augen gesehen, jede Bank, auch eine im Park, fordert zu einem Kommentar heraus, auf der mit Sicherheitsscheiben kleben die NaBu-Aufkleber „Krötenwanderung“. Karl Valentin mit seiner Aufforderung, Wörter beim Wort zu nehmen, wird hier im Praxistest erprobt. Schmunzeln, Lachen und Erkenntnis garantiert. Da finden wir zum Beispiel Alte Naive für Deutschland, Beten auf eigene Gefahr, den Bundesautowahn, Burgbesichtigung nur mit Führer, Bauchfreier Bahnhof, e-mail-Ersatzverkehr (auf einem Briefkasten), das Zeichen Wixi (auf einem Plastikklo), Lügewiese, Nieder mit Sachsen, Selfie – überwache dich selbst (am Fotoautomaten), Geh weg!, Vorsicht beim Überschreiten der Preise, Worry Wurst oder einen Bahnhofsversteher. Viel Spaß noch. Bin einen Filzstift kaufen.

Gerhard Seyfried: Schilderguerilla. Westend Verlag, Frankfurt 2016. 192 Seiten, viele farbige Abb., 14,00 Euro.

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