Neue Bücher von Thomas Meinecke („Selbst“), Martin Suter („Elefant“), Annie Dillard („Pilger am Tinker Creek“), Ulrich Teusch („Die Lückenpresse“), Dirk Stermann („Der Junge bekommt das Gute zuletzt“), Carolin Emcke („Gegen des Hass“), Leopold Federmair („Musils langer Schatten“), Emma Cline („The Girls)“, Thomas Brückner („Hilfe schenken“), Clemens Berger („Im Jahr des Panda“), Claus-Jürgen Göpfert („Die Hoffnung war mal grün“) und „“ – vorgestellt von Karsten Herrmann (KH), Ulrich Noller (UN), Alf Mayer (AM), Yasmina Hamid (YH) und Michael Höfler (MH).
„Genderfuck“ und „Hot topics“
(KH) – Thomas Meinecke ist für die deutsche Literatur ebenso ein Klassiker der Pop- und Postmoderne wie auch ein absolutes Ausnahmephänomen in Form und Inhalt. Der nebenberufliche DJ bedient sich in seinen Romanen konsequent der Formen des Samplings und der Collage und nimmt unsere Kulturgeschichte anhand von Themen wie Rassismus, Gender und Pop in den Fokus. In seinem neuen Roman zeichnet er nun ein Wimmel-Bild der sich auflösenden Geschlechterrollen und sexuellen Binaritäten.
Als Personal setzt Thomas Meinecke drei Frauen mit den bezeichnenden Namen Eva, Genoveva und Venus ein, die als Moderedakteurin und Kunsthistorikerin, Sexualwissenschaftlerin und androgynes Model tätig sind und in einer Frankfurter WG wohnen. Thomas Meinecke selbst verbirgt sich wohl hinter dem Schriftsteller Henri, dem gleichzeitigen Freund von Eva und Genoveva.
Doch die Protagonisten in diesem Roman sind eigentlich nur Staffage und dienen als Interface und Startrampe für Meineckes kulturwissenschaftlich-post-feministische Exkursionen rund um das Thema Geschlecht, Körper und Sexualität, um „Genderfuck“ und „Hot topics“ Er sampelt (häufig englischsprachige) Zitate und Textblöcke aus Blogs, Zeitungen und Büchern zusammen, spürt an Models wie Andreji Pejic, Künstlern wie David Bowie oder intellektuellen Pornostars wie Stoya den geschlechtlichen und sexuellen (De-) Codierungen und Überlagerungen hinterher. Eine historische Referenz bildet dabei Bettina von Arnim, zu der Venus als Kulturwissenschaftlerin im Kontext deutscher Vormärz-Auswanderer nach Texas und insbesondere einer nach der Romantikerin benannten libertären Kommune am Llano River forscht.
Für die Gegenwart kommt der Roman zu dem Schluss, dass „die Kategorie des Geschlechts […] jene der Klasse im universellen Kampf um unser aller politische Emanzipation abgelöst [hat]“. Er zeigt aber auch, wie der sexuelle Diskurs in Zeiten der frei verfügbaren Cyber-Pornographie und der Cyber-Datings und –Arrangements „sich längst in Sphären der Uneigentlichkeit“ bewegt. Der körperliche Akt samt „Kleinen Tod“ wird so zunehmend zum Anachronismus.
Thomas Meinecke konstruiert in seinen Romanen komplexe kulturwissenschaftliche Bezugssysteme, nimmt verborgene Fährten auf, mixt die Diskurse und schafft faszinierende Verbindungen zwischen Trash, Pop, Hochkultur und Philosophie. Mit Verve und durchaus auch mit einer gewissen Portion Selbstironie treibt er so in „Selbst“ die Dekonstruktion auf die Spitze.
Ob der Begriff des Romans mit diesem Verfahren überdehnt wird, lässt sich fragen. Zumindest sind Meineckes Texte keine Pageturner, keine Texte, die man verschlingt, sondern die man eher in kleinen Häppchen zu sich nimmt, um diese immer wieder als avancierten Ausgangspunkt für eigene Recherchen und Assoziationen, für intellektuelle Um- und Abwege abseits des Buchs zu nutzen.
Thomas Meinecke: Selbst. Suhrkamp Verlag 2016. 472 Seiten. 25,00 Euro
Klasse Unterhaltung mit Witz und Substanz
(UN) – Bestsellerautor Martin Suter erzählt in „Elefant“ eine so amüsante wie aberwitzige Geschichte über ein eigentlich weniger witziges Thema: Es geht um Chancen und Risiken des Eingreifens in die Genetik von Lebewesen mit dem Ziel, neue, menschen-gemachte Kreaturen zu schaffen. „Elefant“ ist dabei ein schlanker, spannender und unterhaltsamer Roman, der einen mit seinen Helden durch dick und dünn gehen lässt, der zwar schon sehr klar zwischen „gut“ und „böse“ unterscheidet – der auf Basis dieser Unterscheidung aber dann doch wieder so geschickt angelegt ist, dass das Thema in vielen seiner „schwierigen“ Dimensionen komplex genug beleuchtet wird.
Sicher ist Schoch nicht. Könnte ja auch der Alkohol sein. Beziehungsweise: Nur der, eine Halluzination. Aber – der kleine, rosarote Elefant, der sich in seinen Unterschlupf an der Limmat in Zürich geschlichen hat, scheint echt zu sein. Das merkwürdige Wesen hat Hunger, es ist erst vorsichtig, dann zutraulicher – und schließlich wird es krank. Spätestens da ist Schochs Herz schon erobert, er muss helfen. Er macht sich auf den Weg zu Valerie, der Tierärztin, bei der die Armen ihre Geschöpfe kostenlos behandeln lassen können.
Was Schoch nicht ahnen kann: Es gibt ein paar finstere Gesellen, die auf der Jagd nach dem Elefanten sind, der – so viel kann man verraten – Frucht einer Genmanipulation und äußerst wertvoll ist. Und so kommt etwas in Gang, was Schoch sich selbst im größten Rausch nicht hätte träumen lassen: Ein Gang zum Tierarzt, der ihn sein Herz im doppelten Sinne kosten und samt einer bis dato unbekannten Gottheit im Dschungel in Burma enden wird…
Martin Suter: Elefant. Roman. Diogenes 2017. Hardcover. 352 Seiten. 24,00 Euro
Zu Sinnen kommen
(AM) – Sie ist eine Frau, die Engel gesehen hat und den brennenden Dornbusch. Sie weiß, dass wir mit Seelen geboren werden, aber in Körpern sterben. Ihre Sprache ist klar wie Kristall, ihre Sätze fangen Licht und Schönheit wie der Bernstein. Annie Dillard zu lesen, das ist ein seltenes Erlebnis. Sphärenweit über der gewöhnlichen Bauchnabel-Literatur, ist ihre Lektüre eine Sinneserfahrung außergewöhnlicher Güte. Freilich muss man mit Natur etwas anfangen mögen, und mit Spiritualität. Annie Dillard ist das westliche moderne Äquivalent eines Zen-Meisters oder mittelalterlichen Mystikers, „spirituell promiskuitiv“ nennt sie sich. Sie ist eine Pilgerin, nicht die Glaubensschule ist ihr wichtig, sondern die Einschlussgüte im jeweiligen Bernstein. Sie liest zum Beispiel die Apophthegmata, die Sprüche ägyptischer Wüsteneremiten des vierten und fünften Jahrhunderts. „Geh und setz dich in deine Zelle, und deine Zelle wird dich alles lehren.“ Einen Stein zum Sprechen zu bringen, das dekliniert sie uns beispielsweise durch Fauna und Flora vor in der 1982 erschienenen Essaysammlung „Teaching an Stone to Talk“. Wir sind hier in der Welt, um Zeugen zu sein, sagt sie darin. Transzendentale Philosophin ist sie ebenso wie naturwissenschaftliche Theologin, Weisheit, Neugier und Witz halten sich bei ihr die Waage.
Von Henry David Thoreaus „Walden“ inspiriert, in das sie sich im Studium vertiefte, zieht sie sich als 27-jährige Anfang der 1970er Jahre in die Virginia Blue Montains zurück, um die vielfältigen Erscheinungen der Natur genau zu betrachten und das Wunder des Schauens auf sich wirken zu lassen. Um „wieder zu Sinnen zu kommen“. Das Ergebnis ist „Pilger am Tinker Creek“, ein Jahrhundertbuch, es brachte ihr den Pulitzer-Preis. In Deutschland erschien es verspätet zuerst 1996 (bei Klett-Cotta) als „Der freie Fall der Spottdrossel“, jetzt hat es in der Reihe „Naturkunden“ (bei LitMag hier begrüßt) seinen naturgemäßen Platz gefunden, nicht nur das Papier (70 g/qm, Alster gelblichweiß, 1,3-faches Volumen) ist ein Traum.
Annie Dillard war ein Jahrzehnt verstummt, letztes Jahr erschien von ihr „Abundance“ – Überfluss. Die Welt, in die sie uns mitnimmt, ist reich. Überreich.
Annie Dillard: Pilger am Tinker Creek (Pilgrim at Tinker Creek, 1974). Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Karen Nölle. Reihe: Naturkunden, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 347 Seiten, Softcover Leinenband, 22,00 Euro. Verlagsinformationen.
Zaghaftes Einsteigerbuch in die Medienkritik
(MH) – Das Buch beginnt mit der anschließend als „ironisch“ eingefangenen Behauptung, dass der KGB das Hasswort „Lügenpresse“ in Umlauf gebracht habe. Autor Ulrich Teusch wählt meist Beispiele des unfairen Umgangs mit Russland für seine Medienkritik, die nicht nur die titelgebenden Lücken bei Themen und Detailauswahl, sondern auch die Inhalte des Berichteten umfasst. Eingangs definiert er „Mainstreampresse“ als „Mainstream innerhalb des Mainstreams“ und schildert, wie er sich als seriöser Journalist gegenüber Pressekritikern (verteidigend) und Presse (kritisierend) verhält.
Teusch appelliert an die Verantwortung der Medien für ihren schlechten Journalismus und dessen Folgen, prangert moralische Doppelstandards und unzulässige Wertungen an. Am besten ist sein Buch, wo es beschreibt, wie Redakteure sich von Politikern bei vertraulichen Gesprächen vereinnahmen lassen, sich in die Versuchung führen lassen, selbst mit zu regieren, und nicht verstehen, was dies mit ihnen macht. Woanders verwundert, wie sehr sich Teusch auf die Aussagen des grausam niveaulos herunter getippten Bestsellers „Gekaufte Journalisten“ von Ulfkotte bezieht.
Der Großteil von „Lückenpresse“ besteht aus Anlaufnehmen durch das Aufzählen von Symptomen und Beispielen, um am Ende einige mögliche Ursachen für unseriöse Berichterstattung zu nennen. Wer so einen langen Anlauf nimmt und so vorsichtig argumentiert, um möglichst alle Leser anzusprechen, kommt im Ergebnis nicht sehr weit. Wann immer es interessant wird, weil Teusch brisante Beispiele wie den Umgang mit den nichtkonformen Franz Alt oder Nikolaus Brender oder Konflikte wie den zwischen Wahrhaftigkeit und den Erwartungen der Chefredaktion anspricht, folgt bloß eine Fußnote, oder ein Kapitel endet einfach.
Manche naheliegenden Gedanken wie der, dass verzerrende Berichterstattung die Wutbürger dazu animiert, einfach selbst für wahr Gehaltenes in die Welt zu setzen, fehlen. Statt Tiefe im Titelthema der Verzerrung durch Nachrichtenauswahl bietet dieses Buch ein Allerlei aus meist nicht Neuem. Es ist ein Buch für Einsteiger in das Thema Medienkritik, das in Bezug auf die Mechanismen hinter unseriöser und gedankenarmer Pressearbeit meilenweit hinter dem fünf Jahre alten „Blödmaschinen – die Fabrikation der Stupididtät“ von Metz und Seeßlen zurückbleibt.
Ulrich Teusch: Die Lückenpresse. Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kannten. Westendverlag, 2016. 224 Seiten. 18,00 Euro.
Bestechender Blick für surreale Szenen des Alltags
(UN) – In Mittelpunkt der Geschichte steht ein Junge namens Claude, 13, aus Wien, dessen Eltern sich getrennt haben. Und nicht nur das – sie haben auch eine Wand in die Wohnung gezogen; seinen Bruder, der jenseits, bei der Mutter wohnt, darf Claude nicht mehr sehen. Die Mutter, eine Ethnologin, hat sich mit einem südamerikanischen Straßenmusiker zusammengetan; der Vater hat auch bald eine neue Freundin, die dann auch noch schwanger wird. Heißt: Bald ziehen alle aus, für den Jungen interessiert sich keiner, und weil die Wohnung trotz teurer Miete erhalten werden soll, ziehen halt ein paar Chinesen ein. Gut, dass es Dirko gibt, den weitgereisten serbisch-internationalen Taxifahrer aus der Nachbarschaft. Dirko wird so eine Art Vaterersatz. Und dann taucht auch noch Minako auf, Claudes erste Liebe. Damit wird es allerdings dann schon wieder komplizierter…
Dirk Stermann, geboren 1965, stammt aus dem Rheinland – er ging zum Studieren nach Wien und ist dort hängen geblieben. Heute ist er einer der bekanntesten Komiker Österreichs, Jan Böhmermann nennt ihn als Vorbild. Mit seinen „lustigen“ Büchern ist Stermann in Österreich ein Bestsellerautor. Mit „Der Junge bekommt das Gute zuletzt“ beweist er, dass er auch anders, sozusagen „ernsthaft“ kann.
Wobei es dem Buch keineswegs an Pointen, grimmigem Witz, melancholischem Humor und einem bestechenden Blick für surreale Szenen des Alltags mangelt. SO kann es klingen, wenn ein „Humorist“ literarisch schreibt, da sollten sich all die Retortenpointenfabrizierer aus den Bestsellerlisten mal ein Beispiel dran nehmen. Stermann kennt und er kann wahre Komik – den Witz, der auf Melancholie gründet und auf Moral, und nicht ausschließlich auf dem Vorhaben, das Konto zu füllen.
Dirk Stermann: Der Junge bekommt das Gute zuletzt. Roman. Rowohlt Verlag 2016. 224 Seiten. 19,95 Euro.
Klarheit und Authentizität
(YH) – Carolin Emckes „Gegen des Hass“ gliedert sich in drei Essays. Im Ersten beschäftigt sie sich mit den Mechanismen von Eingrenzung und Ausgrenzung. Sie zeigt mit den Beispielen von Liebe, Hoffnung und Sorge, wie die ,,Raster der Wahrnehmung“ funktionieren, das heißt, welche Faktoren die Wahrnehmung des anderen beeinflussen können, und wendet diese Beispiele sehr anschaulich auf den Hass an. Dem folgt eine Charakterisierung des Hasses. Sehr eindrucksvoll ist hierbei, dass sie die Hassenden vollkommen außen vorlässt. Wenn man die Strukturen und gesellschaftlichen Gründe des Hasses bekämpft, so ihre These, können die Hassenden aufhören zu hassen. Damit differenziert sie ganz klar und rückt sehr deutlich von der Verurteilung von Menschen als „Pack“ oder als Gruppe ab- sie will nicht spalten, sie will vereinen. An den Beispielen von Clausnitz und dem Fall Eric Garner in den USA zeigt sie die lange tradierten Assoziationsketten der Ressentiments, die sehr tief und fest in der Gesellschaft verankert sind, und was passiert, wenn sich der daraus resultierende Hass plötzlich Bahn bricht. Dabei begleitet uns die Frage: ,,Was sehen sie nur?“ durch das gesamte Buch, wie ein roter Faden. (Genau diese Denkmuster gilt es aufzubrechen.) Durch die sehr genauen Beschreibungen dieser Fälle setzt sie ihnen gleichsam ein eindrückliches Denkmal und sorgt so dafür, dass sie in der allgemeinen Aufregung nie mehr vergessen werden.
Im zweiten Teil setzt sie sich mit den den Hass kanalisierenden und von ihm profitierenden Bewegungen auseinander. Hierbei beleuchtet sie die Ideologien und Narrative, sowohl der neuen Rechten wie auch des IS, und zeigt hier auch auf, dass sich diese Bewegungen mehr ähneln, als man glauben könnte. Zusätzlich geht sie auf den ,,Rekurs auf die Natürlichkeit der Geschlechter“ ein und zeigt am Beispiel der Transsexuellen die Grenzen der liberalen westlichen Gesellschaft.
Der letzte Teil des Buches ist ein flammendes Plädoyer für die Pluralität als Garant für die Freiheit (in) einer Gesellschaft. Hier lässt sie alle zuvor gesponnenen Fäden zusammenlaufen. Es ist sicherlich nicht das erste Plädoyer für eine demokratische Gesellschaft und hoffentlich auch nicht das letzte. Gerade jetzt, da die Diskussionen immer absurder, schriller und lauter geführt werden, braucht es Menschen, die die Aufgeregtheit aus der Diskussion herausnehmen und wieder eine Sachebene einführen und uns nochmal ganz deutlich zeigen, was wirklich wichtig ist und was wir auf jeden Fall schützen müssen, wofür es sich lohnt zu kämpfen. Pluralität ist nicht Starres. Sie muss immer wieder neu verhandelt und erweitert werden. Sie pocht darauf, dass dies eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, zeigt, was wir selbst tun können, und nimmt damit die Ohnmacht. Am wichtigsten, erschließt sich daraus, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt: Gerade nach Terroranschlägen ist es essentiell, dass wir uns nicht vereinzeln lassen und dem Hass kein Forum bieten.
,,Gegen den Hass“ ist ein schlüssiges Gesamtwerk und wird vor allem durch den besonderen Duktus, den Umgang mit der Sprache, lesenswert.
Diese Sprache besticht durch ihre Klarheit und Authentizität. Sätze wie ,,Am Hass zweifelnd lässt sich nicht hassen“ oder ,,Der Hass blendet alle Hemmungen aus. Es gibt keine Unterschiede, keine Präzision, keine Individuen mehr“, sind ebenso präzise und allgemeingültig wie einprägsam und durchziehen das Buch. Auch die Auswahl der Zitate ist bemerkenswert.
Sie dienen Emcke nicht nur als bloße Bebilderung ihrer Aussagen, sie arbeitet sie in das Werk symbiotisch und fließend ein, baut ihre Essays darauf auf. Gleichzeitig vergrößert sie damit jeden Bücherstapel, denn es sind wertvolle Leseempfehlungen.
Das macht Carolin Emckes Buch zu einem sehr wichtigen Werk unserer Zeit. Im Klappentext steht, ,,Gegen den Hass“ sei ,,Für alle, die überzeugende Argumente suchen, um eine humanistische Haltung und eine offene Gesellschaft zu verteidigen.“, dem schließe ich mich an. Außerdem gibt das Buch all jenen Menschen die Kraft, den Mut und die Bestätigung an dieser Haltung trotz allem festzuhalten, durchzuhalten. Emcke reißt uns aus der Ohnmacht, verbietet die Ohnmacht. ,,Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seine Einladung, sich ihm anzuverwandeln, ausschlägt. Wer dem Hass mit Hass begegnet, hat sich schon verformen lassen, hat sich schon jenem angenähert, von dem die Hassenden wollen, dass man es sei. Dem Hass begegnen lässt sich nur durch das, was dem Hassendem abgeht: genaues Beobachten, nicht nachlassendes Differenzieren und Selbstzweifel.“ Daran sollten wir uns immer erinnern.
Carolin Emcke: Gegen des Hass. Essay. S.Fischer 2016. 240 Seiten. 20,00 Euro.

Zweimal Musil, zweimal Vergnügen
(AM) – „Musil zum Vergnügen“ heißt der kleine Band programmatisch, herausgegeben von Fred Lönker, ausgewiesener Musil-Kenner und außerplanmäßiger Professor in Freiburg. Der Titel „apl. Professor“ bzw. „nicht beamteter außerordentlicher Professor “, kurz „n. b. ao. Professor “ oder „nbao. Professor“ hätte auch gut in Musils Kakanien gepasst, aber schweifen wir nicht ab. In vier Kapiteln (Zeitenwende/ Geist, Moral und andere Unsauberkeiten/ Liebesfreud und Liebesleid/ Menschliches und Tierisches) lässt der Herausgeber den Dichter selbst in vielen Vignetten und Textauszügen sprechen. Musil ist geistreich, komisch, anspruchsvoll. „Thomas Mann und ähnliche schreiben für die Menschen, die da sind; ich schreibe für Menschen, die nicht da sind“, notierte er einmal. Und auch: „Die schlichte Dummheit ist wirklich oft eine Künstlerin.“
Diesem Autor auf Augenhöhe zu begegnen, das ist nicht jedem gegeben. Einer, der es vermag, ist Leopold Federmair, selbst Schriftsteller, Essayist und Übersetzer von Rang, der heute in Hiroshima lebt und es in seinem geistreichen Buch „Musils langer Schatten“ unternimmt, Ulrich, den „Mann ohne Eigenschaften“ ins Heute zu schreiben, indem er ihn zerlegt, befragt, interpretiert und weiterdenkt und dabei auch polemisiertund provoziert . Der Protagonist in Musils Hauptwerk wäre heute, so überzeugt uns Federmaier, kein Außenseiter und kein Kritiker der Gesellschaft, sondern ihr am meisten verbreiteter Repräsentant. „Kierkegaard würde sagen: Er wagt es nicht, sich zwischen Ethik und Ästhetik zu entscheiden.“ Klasse Buch. Großes Vergnügen.
Leopold Federmair: Musils langer Schatten. Essay. Klever Verlag, Wien 2016. Klappenbroschur, 210 Seiten, 22,00 Euro.
Fred Lönker (Hrsg.): Musil zum Vergnügen. Reclam Verlag, Stuttgart 2017. 174 Seiten, 6,00 Euro.
Die bösen Blumenkinder
(KH) – In die Zeit der fröhlich-bunten Hippie-Ära in Kalifornien und ihrer Schattenseiten à la Charles Manson führt uns Emma Cline in ihrem Debut und erzählt dabei im Kern eine fein nuancierte Coming of Age-Geschichte.
Ihre Protagonistin Evie Boyd ist vierzehn Jahre alt und fühlt sich von ihren schon lange getrennt lebenden, wohlhabenden Eltern vernachlässigt und unverstanden: „Auch in ihren getrennten, sie jeweils ganz und gar in Anspruch nehmenden Welten waren meine Eltern enttäuscht von mir“. Denn entgegen ihren Erwartungen zeigt Evie einfach keinen Schimmer von Größe oder außergewöhnlichem Talent. So spürt sie in sich eine alles erfassende Leere, „um die ich mich zusammenrollen konnte wie ein Tier.“
Eine Wende kommt in ihr Leben, als sie auf eine Gruppe von Hippiemädchen stößt, die über allem zu schweben scheinen, was um sie herum geschieht. Sie freundet sich mit der herausstechenden Suzanne an und folgt ihr schließlich auf eine heruntergekommene Ranch, wo die Hippie-Kommune mit ihrem Guru Russel lebt. Und dieser Russel konnte „meine Gedanken so einfach lesen […], als nähme er ein Buch aus einem Regal.“
Feinfühlig fängt Emma Cline, die unter anderem auch für den New Yorker schreibt, das Gefühlsleben ihrer jungen Protagonistin ein, in der die Sexualität gerade erwacht und die danach dürstet wahrgenommen und anerkannt zu werden. Suzanne und Russel spielen genau auf dieser Klaviatur und ziehen Evie in ihren Bann. Sie bemerkt nicht, wie die Stimmung in der Hippiekommune aufgrund von ständigem Geldmangel, harten Drogen und einem fehlgeschlagenen Deal kippt und die Blumen des Bösen wachsen. Und so schickt Russel seine Jüngerinnen eines Nachts los, um einem Ex-Freund einen Denkzettel zu verpassen – die Aktion endet in einem Blutbad, an dem Evie nur um Haaresbreite nicht beteiligt ist.
Emma Cline zeigt sich in ihrem Debut als eine grandiose und atmosphärisch dichte Erzählerin mit reihenweise starken Bildern und Metaphern. Langsam und ohne Effekthascherei führt sie den Leser auf das Grauen zu, für das die Charles Manson-Morde die Folie bieten. Im Rückblick lässt sie die ältere Evie dabei auch ausloten, was wohl geschehen wäre, wenn sie in dieser Nacht bis zum Ende dabei gewesen wäre, wenn „der Hass, der unter der Oberfläche meines Mädchengesichts vibrierte“ ausgebrochen wäre. So deutet sich in diesem starken Roman auch an, wie dünn die Haut der Zivilisation im Menschen ist und dass es wohl eher die kleinen Dinge und Zufälle sind, die über das Gute und das Böse entscheiden und nicht unsere moralische Grundverfasstheit.
Emma Cline: The Girls. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser 2016. 348 Seiten. 22,00 Euro.
Enge Beziehung
(AM) – In diesen Zeiten, da (nicht nur) in Syrien die Menschenrechte mit Füßen getreten werden und in den USA ein Präsident Trump auf alte Werte und völkerrechtliche Errungenschaften trampelt, lohnt ein Blick auf eine Institution, deren Selbstverpflichtungskern und Aufgabe die schlichte Humanität ist. Unser Bild von der Schweiz als neutrale Instanz ist durch das dort 1863 gegründete Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ebenso geprägt wie Genf seinen Status als Zentrum der internationalen Diplomatie ebenfalls dem Roten Kreuz verdankt. Tief – und zu Recht – ist es in das Selbstverständnis der Schweiz eingeschrieben, auf internationalem Parkett eine besondere humanitäre Rolle einzunehmen. Nicht umsonst ziert auch die Flagge der Schweiz ein großes Kreuz.
Die Beziehungen zwischen dem IKRK und der Schweiz untersucht der Historiker Thomas Brückner in seiner auf Verständlichkeit angelegten Doktorarbeit anhand der besonders aufschlussreichen Jahre 1919 bis 1939, also in den Jahren zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Er bekam Zugang zu bisher verschlossenen Archiven. NZZ Libro, der Buchverlag der Neuen Zürcher Zeitung, hat das Buch überaus solide ausgestattet, Lesebändchen und schönes Papier inklusive.
Das weltweit so wirksame (und leider manchmal ohnmächtige) IKRK besteht aus bis zu 25 Schweizer Staatsbürgern und ist die einzige Organisation, die im humanitären Völkerrecht erfasst und als dessen Kontrollorgan genannt ist. Seine ausschließlich humanitäre Mission basiert auf den Prinzipien der Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit und ist der Schutz des Lebens und der Würde der Opfer von Kriegen und innerstaatlichen Konflikten. Tu felix Svizzera, Verfassungspatriotismus im besten Sinne, das musste ich bei der Lektüre wieder und wieder denken.
Thomas Brückner: Hilfe schenken. Die Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz 1919–1939. NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich, 2017. 272 Seiten, 13 Illustrationen, 48,00 sfr / 48,00 Euro. Verlagsinformationen.
Schwergewichtige Nullnummer
(KH) – Einen „großen erzählerischen Reigen durch eine nervöse Gegenwart“ verspricht der Klappentext zu Clemens Berger neuem Roman „Im Jahr des Pandas“. Doch das 670-Seiten-Schwergewicht des Autors entpuppt sich als eine ziemliche Luftnummer, die an einem grassierenden Symptom unserer Zeit krankt: Eine endlose und sich über die gesamte Welt der Dinge und Phänomene legende Logorrhoe.
Dabei ist die Grundidee des Buches eine spannende: Im Zentrum des Buches stehen Pia und Julian, die in Wien Bankautomaten befüllen und keine Chance darauf sehen, irgendwann einmal ein unbeschwertes und freies Leben führen zu können. Daher flüchten sie mit den Geldbeständen einer Nacht in den Süden und fangen ein neues Leben an. Parallel zu dieser Geschichte erzählt Berger zwei weitere: Die des reichen und berühmten Kasimir Ab – „ein verrückter Künstler, der immer Handschuhe trägt und nichts als Hände malt“ – und die der Tierpflegerin Rita, die im Wiener Zoo ein frisch geborenen Pandababy betreut und dessen Tagebuch schreibt. Wien fiebert ebenso mit diesem Pandababy wie mit der modernen Ausgabe von Bonny & Clyde, deren Weg über Süditalien und Tunesien bis nach Nordvietnam führt. Und dann wird die Stadt auch noch von subversiven Kunstaktionen eines „Unbekannten Künstlers“ erschüttert, der das Geldsystem infrage stellt und schließlich auch noch Kasimir Ab entführt.
Das kritisch Potenzial des Romans – die Kritik eines entfesselten Kunstbetriebs und Finanzsystems und die ewige Frage, ob Geld glücklich mach – wird durch Clemens Berger hergeschenkt. Er bleibt an der Oberfläche der Dinge und nutzt die Kapitalismuskritik und subversiven Kunstaktionen nur als Effekt, aber nicht als Essenz für den Roman. Stattdessen präsentiert er uns ausgedehnte redundante Beschreibungen des neuen glücklichen Lebens von Pia und Julian mit Sonne-Wein-Oliven-Romantik, fernöstlicher Exotik und Sex ohne Ende. Er schrammt dabei immer wieder am Klischee vorbei und so müssen wir Sätze lesen wie „Sie war das Beste, was ihm je passiert ist.“
Mit Sätzen wie diesen rutscht der ansonsten erzählerisch doch recht versierte Clemens Berger in die Kategorie einer leidlich unterhaltsamen, doch nichts Neues oder Bewegendes bietenden Unterhaltungsliteratur.
Clemens Berger: Im Jahr des Panda. Luchterhand 2016. 672 Seiten. 24,00 Euro.
Frankfurter Schule?
(AM) – Frankfurt am Main als Nabel der Republik. So sieht die Intelligentia der Stadt sich immer schon gerne, Humor-Aktivisten inbegriffen. Das gilt sogar für Rechts: Alexander Gauland war hier einem CDU-Oberbürgermeister einst Referent, sein AfD-Kollege Albrecht Glaser, eben ein Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten (42 Stimmen), war hier Kämmerer. Und natürlich für die Grünen, Spaltpilze inklusive. Joschka Fischer und die Putztruppe, Tom Königs und Daniel Cohn-Bendit (der hier den „Pflasterstrand“ herausgab, ehe der zum „Frankfurt Journal“ samt „Frankfurt geht aus/ Frankfurt kauft ein“ mutierte), die Realos und die Fundis, Jutta Ditfurth und Manfred Zieran, alle hatten sie hier ihr „Unter dem Pflaster liegt der Strand“. 1985 kam es in Hessen zur ersten rot-grünen Landesregierung mit „Turnschuhminister Fischer“, 1989 im Frankfurter Rathaus („Römer“ genannt) zur ersten rot-grünen Großstadtregierung mt vier grünen Dezernentinnen und Dezernenten.
Dem Buch von Claus-Jürgen Göpfert gegenüber, langjähriger Redakteur der „Frankfurter Rundschau“, bin ich etwas befangen, denn wie er habe ich vieles an „Grün“ in Frankfurt aus nächster Nähe miterlebt. Immerhin, auch in seinem Buch bleibt er sich und seiner Haltung von 1989 und vorher treu. Im Grunde – und das spiegelte sich Woche für Woche über viele Jahre in seinen Artikeln wider – hat er den Realo-Grünen nie verziehen, dass sie zur Macht griffen, erst mit den Sozis und dann mit der CDU eine Stadtregierung gebildet haben. Mitregieren (vielleicht) ja, aber sich den Pelz nass machen, oh nein, das war und ist Göpferts Haltung bis heute. Große Hoffnungen und bittere Enttäuschungen liegen da nah beieinander. Da wird es zur „Katastrophe“, wenn die Grünen bei der Kommunalwahl 2016 von 25,8 Prozent auf 15,3 Prozent fallen, pardon „abstürzen“ natürlich. Und klar, beginnt dann „eine hilflose Suche nach Ursachen“. Hätte man doch nur auf den Autor gehört: „Zu sehr hatte sich die Partei an der Regierung der vermeintlichen Logik des kapitalistischen Wachstums gebeugt: immer neue Bürohochhäuser, ein immer weiterer Ausbau des Banken- und Dienstleistungssektors …“ usw usw usw.
Solche tibetanischen Positionsmühlen beiseite, ist das Buch aber ein weithin detailreicher Ausflug in die parlamentarischen Anfänge der Grünen. Der Klatschanteil ist beträchtlich niedrig, das war immer schon eine gute Seite an Claus-Jürgen Göpfert. Dafür ist er einfach zu ernsthaft und gradlinig.
Claus-Jürgen Göpfert: Die Hoffnung war mal grün. Aufstieg einer Partei – das Frankfurter Modell. Westend Verlag, Frankfurt 2016. 288 Seiten, Hardcover, zahlreiche Fotos, 22,00 Euro.