Kurzrezensionen – diesmal mit Ruth Johanna Benrath, Ascanio Celestini, Mikael Niemi, Helge Schneider und Marjana Gaponenko; besprochen von Carola Ebeling (ce), Carl Wilhelm Macke (cwm), Doreen Wornest (dw), Christina Mohr (cm) und Frank Schorneck (fs).
Spannendes erzählerisches Puzzle
(ce) – „Wimpern aus Gras“, das ist ein schönes, schwebendes Bild und ein verheißungsvoller Titel für einen Roman. Es ist der zweite der 1966 geborenen Berliner Autorin Ruth Johanna Benrath. Sie erzählt darin von einer Mädchenfreundschaft, von Entfremdung. Und vom Entgleiten eines Menschen in eine haltlose Einsamkeit, das von niemandem bemerkt wird. Die 21-jährige Rena hat von Anna kaum mehr etwas gehört seit diese überstürzt in die USA gegangen ist. Nun erhält sie von deren Ehemann die Nachricht von ihrem Tod. Alles, was sie von der Schulfreundin hat, ist ein altes Tagebuch, ein Hochzeitsfoto, ein letzter, fast feindseliger Brief. Rena wird zur Detektivin, die mithilfe dieser wenigen Spuren das fremd gewordene Leben und den Tod Annas zu entschlüsseln sucht.
In kurzen, schnell wechselnden Szenen entwirft Benrath eine Art existenzielles Rätselspiel: Szenen der Nähe und Distanz zwischen den Mädchen, eigentlich Rückblenden, werden im Präsenz erzählt. Die Perspektiven wechseln, mal ist es Annas, dann Renas Erleben, schließlich auch das Reikos. Reiko, der Ehemann Annas, sucht in der Erzählgegenwart den Kontakt zu Rena, bedrängt sie fast. Deutlich wird: Anna hat sich in eine fatale Abhängigkeit begeben, in eine Liebe, die sie erlösen sollte. Warum und wovon? Das bleibt letztlich vage. Man folgt Benraths erzählerischem Puzzle mit Spannung, wird selbst zur Detektivin: Und ist dann am Ende doch ein bisschen enttäuscht – weil sich das verheißungsvoll Schwebende dann doch in einer traurigen, unglücklichen Frauenfigur auflöst, die an einen ziemlich blinden, letztlich egozentrischen Mann geraten ist.
Ruth Johanna Benrath: Wimpern aus Gras. Suhrkamp TB 2011. 216 Seiten. 12, 95 Euro.
Die fabelhaften sechziger Jahre
(cwm) – Der Beginn des Buches ist grandios. Man muss ihn wörtlich zitieren: „Alle wollten in den sechziger Jahren geboren werden, aber man kann im Leben alles ändern, außer dem Geburtsdatum. In den fünfziger Jahren taten die Leute nichts Spannendes. Das einzig Gute an den fünfziger Jahren war die Gewissheit, dass bald die sechziger Jahre anfangen würden.“ Und wie der Autor (Pech gehabt, geboren Anfang der siebziger Jahre …) die letzten Tage des Jahres 1959 schildert, ist einfach mitreißend komisch. „Dann kam das Jahr 1959 und alle bissen noch ein paar Tage die Zähne zusammen, denn es fehlte nicht mehr viel bis zum Ende dieser faden Jahre …“
Wer so rasant seine Erzählung beginnt, schafft hohe Erwartungen beim Leser. Man hofft, dass Celestini dieses Tempo und diesen schrägen Blick auf die ‚Zeit, „die vergeht“, im weiteren Verlauf des Buches fortsetzt. Aber irgendwie wird der Witz dann blass. Manche Gags floppen einfach wie ein zu lange herumgestandener Schampus. So schrecklich lustig sind furzende Krankenschwestern und Großmütter, die rohe Eier schlürfen und dabei immer wieder den Gestank von Hühnerärschen beschwören letztlich ja auch nicht. „Ich muß lachen, weil ich einem Marsmenschen Kacke zu essen gegeben habe.“ Und so weiter …Verrückte Geschichten aus einem Irrenhaus wurden auch schon mal witziger erzählt als hier von Ascanio Celestini, der in Italien bei vielen Jugendlichen als Komiker eine Art Kult-Status besitzen soll.
Vielleicht gehört er zu den nicht wenigen italienischen Autoren, die auf der Bühne sämtliche Register ihres Witzes und ihrer Gestik ziehen, denen aber beim Schreiben eines Textes schon nach den ersten Seiten die Luft zum Erzählen und Schreiben zu dünn wird. Den furiosen Anfang dieses Buches merken wir uns, alles Andere hat man nach der Lektüre schnell vergessen.
Ascanio Celestini: Schwarzes Schaf (La pecora nera, 2010). Aus dem Italienischen von Ester Hansen. Wagenbach-Verlag 2011. 123 Seiten.
Er selbst: ein UFO
(dw) – Teenager zu sein ist nicht leicht. Mikael Niemis autobiografisch getönter, sprachgewaltiger dritter Roman erzählt von den Problemen des Erwachsenwerdens.
„Stell dir ein Omelett vor. Ein Sechserpack Eier, die du mit dem Holzlöffel verrührst. Kipp zwei starrende Perlzwiebeln, wässrig und leer, hinein. Wirf ein paar dicke Preiselbeeren dazu, die scharf anbraten, bis sie zur reifen Akne platzen und anfangen zu tropfen. Fertig ist mein Aussehen.“
Niemis namenloser Held lehnt sich gegen alles und jeden auf. Um sich von seinen genormten Mitschülern abzuheben, geht er mit der grauenhaften Kittelschürze seiner Mutter bekleidet zur Schule. Und tatsächlich gibt es da ein Mädchen, das zu verstehen scheint, dass er kein Freak ist, sondern gegen den allgemeinen Schönheits- und Markenwahn protestiert. Klar, dass sie von nun an durch seinen Kopf schwirrt. Aber auf die Idee, es für einen guten Plan zu halten, sich einen fetten Popel an die Wange zu schmieren und damit den ganzen Tag lang rumzulaufen um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, kommen wohl nur Jungs …
Solche krausen Teenagergedankengänge sind hervorragend getroffen. Niemes Held ist der typische sich selbst überschätzende Pubertist: Mutter? Ihm geistig unterlegen, da sie glaubt, Afghanistan sei größer als Pakistan. Mitschüler? Entweder Arschgeigen, denen alles zufällt, oder Idioten, die den Arschgeigen nach dem Mund reden. Er selbst: ein UFO. Schullektüre? Verzichtbar, denn die eigenen Dichtversuche sind eh das Genialste, was die Menschheit je hervorgebracht hat:
Bombardier den Dreck
Bombardier den ganzen Dreck
Wirf Granaten in die Flure
Bomben auf die Gehirne
Wirf Feuer in die Klassenräume
Er will die Welt aufwecken. Die Welt, die ihn nicht versteht, in der er keinen Platz findet, er, der Alien unter all den Zombies. Doch die Zombies sehen in seiner Genialität nicht seinen Schmerz und sein Unverstandensein, sondern nur einen Aufruf zu Gewalt. Und tatsächlich ist da Palle. Ein kauziger Einzelgänger, der von den Mitschülern getriezt und misshandelt wird und der es ebenfalls „allen“ zeigen will. Nur nimmt er die Poesie unseres Helden wörtlich …
Der witzige Titel und der Klappentext lassen einen leichten und lustigen Roman erahnen, doch das täuscht. Es ist keine leichte Kost, dieses Buch. Man erinnert sich an die eigene Pubertät, diese Zeit der hormonellen Rebellion, Selbstüberschätzung und Verwirrung. „Erschieß die Apfelsine“ beschäftigt sich überzeugend mit der in dieser Zeit zentralen Frage: Wie geht man mit der Uniformität der Umwelt um, wie findet man zu einer eigenen Persönlichkeit?
Mikael Niemi: Erschieß die Apfelsine (Skjut Apelsinen, 2010). Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. btb 2011. 240 Seiten. 14,99 Euro.
Kommissar Schneider auf Mallorca
(cm) – Helge Schneider bricht auf der Bühne zusammen! Was wie ein Witz aus des Meisters eigener Werkstatt klingt, wurde im Sommer die reine Wahrheit: Schneider hat sich übernommen und musste erst mal Urlaub machen. Vielleicht auf Mallorca, Hauptschauplatz des neuen Kommissar-Schneider-Krimis „Satan Loco“, der wie seine Vorgänger natürlich gar kein Krimi ist, sondern eine Fingerübung in absurdem Humor. Wie auch am Klavier verschleudert Helge Schneider sein Talent auf entwaffnende Weise – denn nur, wer wie Schneider ein wirklich lustiger, hochbegabter und in allen Bereichen unterschätzter Künstler ist, kann es sich leisten, solchen an den Perückenhaaren herbei gezogenen Quatsch wie „Satan Loco“ zu veröffentlichen. Kommissar Schneider verschlägt es für seinen nunmehr fünften Fall auf des Deutschen liebste Ferieninsel Mallorca, wo er augenscheinlich satte Lebenskrisen, ja Lebensekel durchleidet.
Sein Eheleben ist mit „Routine“ noch harmlos beschrieben, nach Feierabend „muss“ Kommissar Schneider Fußball gucken, weil das für Ehemänner so vorgesehen ist. Wenn kein Fußball kommt, guckt er eben „Die Goldene Kamera“ und regt sich darüber auf. Seine Tochter will Model werden, Schneider selbst befürchtet, auf seine alten Tage schwul zu werden und noch dazu muss er einen Fall lösen, zu dem es nicht nur kein Motiv, sondern noch nicht mal eine Tat gibt. Wie immer lacht man sich scheckig über Schneiders Formulierungen und abstruse Ideen wie den Puma namens Legumes. Es ist zu erwarten, dass sich Helge Schneider in seinem Zwangs-Erholungsurlaub neue Fälle für Kommissar Schneider ausgedacht hat.
Helge Schneider: Satan Loco. Kiepenheuer & Witsch Taschenbuch 2011. 208 Seiten. 7,00 Euro.
Hymne auf die Fantasie
(fs) – Es ist kaum zu glauben, dass das Debüt der 1981 in Odessa (Ukraine) geborenen Marjana Gaponenko von der Literaturkritik weitgehend unbeachtet blieb. Seit 1996 schreibt die heute in Mainz lebende Autorin auf Deutsch. Vorher in erster Linie als Lyrikerin in Erscheinung getreten, ist ihr mit „Annuschka Blume“ ein zutiefst poetischer Briefroman gelungen. Wie das Genre des Briefromans an sich wirkt auf den ersten Blick so antiquiert wie die Sprache, in der sich die ukrainische Dorflehrerin Anna Konstantionowna Annuschka Blume und der Forscher Piotr Michailowitsch von ihren Erlebnissen berichten. Pathetisch, mit blumigen Worten versichern sie sich gegenseitig ihre Sehnsucht nach dem Briefverkehr. Als Lehrerin erzieht Annuschka Blume ihre Schüler zu Kreativität: „Je unglaubwürdiger die Tatsachen, je absurder der Inhalt, umso besser die Note. Zu einem schüchternen Kind sage ich immer: ‚Sieh zu, dass du Fehler machst, Kleines‘ und streichle ihm die Wange. Einem kleinen Intellektuellen mit dicken Brillengläsern sage ich: ‚Bloß keine harten Tatsachen, Freundchen, sonst bleibst du sitzen!‘“ – nach dieser Maxime hat Marjana Gaponenko auch ihren fiktiven Briefwechsel gestrickt, dessen surreale Wendungen an Vorbilder wie Wenedikt Jerofejew oder Daniil Charms erinnern.
Der Begriff „Roman“ ist hier nur in Anführungszeichen zu verwenden, vielmehr dient Gaponenko der Briefwechsel dazu, irrwitzige Episoden miteinander zu verknüpfen, wenn zum Beispiel Piotr beschreibt, wie er als Visionär ausgesandt wurde, um seine Theorie zu beweisen, dass die Steppe und die Berge letztlich das gleiche sind. Annuschka Blume ist eine überbordende Hymne an die Phantasie, ein Buch gewordener Traum, den mitzuträumen sich lohnt.
Marjana Gaponenko: Annuschka Blume. Residenz Verlag 2010. 251 Seiten. 21,90 Euro.