Grausamkeiten à la Grimm
– Tötende Kinder – ein Schock-Thema. Gut, dass Liz Jensen in „Die da kommen“ nicht in erzählerische Hysterie ausbricht. Ein Lob von Joachim Feldmann.
Es dürfte kaum ein literarisches Motiv geben, das derart geeignet wäre, erwachsenen Lesern einen gehörigen Schrecken einzujagen, wie das des mordenden Kindes. Unter den an Grausamkeiten nicht armen Grimm’schen Märchen beispielsweise nehmen zwei Erzählungen, die im Protokollton davon berichten, wie fünf- bis sechsjährige Kinder mit verteilten Rollen nachspielen, was sie am Schlachttag gesehen haben, eine ganz besondere Stellung ein.
Wohlweislich verzichteten die Brüder ab der zweiten Auflage auf den Abdruck der Texte, die unvorbereitete Gemüter noch heute nachhaltig erschüttern können. Wenig von seiner Wirkung verloren hat auch Wolf Rillas, auf John Wyndhams Science-Fiction-Roman „Kuckuckskinder“ (The Midwich Cuckoos, 1957) basierender Horrorfilm „Das Dorf der Verdammten“ aus dem Jahre 1960, in dem eine Gruppe identisch aussehender Kinder mit telepathischen Fähigkeiten (wahrscheinlich im Auftrag außerirdischer Mächte) lebensbedrohliche Aktivitäten entwickelt. Ein weiterer Klassiker des Genres, Stephen Kings ebenfalls verfilmte Kurzgeschichte „Children of the Corn“ (1977), erzählt von einem Dorf in Nebraska, dessen erwachsene Bewohner sämtlich von einer Gruppe Kinder und Jugendlicher umgebracht worden sind.
Unterkühlt
Die neueste Variante des schockträchtigen Motivs präsentiert die britische Autorin Liz Jensen in ihrem Roman „Die da kommen“. Eine globale Mordserie versetzt die Weltöffentlichkeit in Hysterie. Die Täter sind Kinder, die Opfer ihnen nahestehende Erwachsene. In England tötet eine Siebenjährige ihre Großmutter mit einem Druckluftnagler, in Frankreich feuert ein Zehnjähriger eine Schrotflinte auf seine Onkel ab, und in Südkorea stirbt ein alter Mann, den sein neunjähriger Enkel in der Küche an einen Stuhl gefesselt hatte, bevor er den Gashahn aufdrehte. Schon bald zählt man über einhundert Fälle, doch die Polizei ist ratlos.
Zur gleichen Zeit untersucht der Anthropologe Hesketh Lock seltsame Vorkommnisse in Unternehmen rund um die Welt: Es geht um Industriesabotage, verübt von bis dahin vollkommen unverdächtigen Mitarbeitern. Lock verfügt über die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, wo gewöhnliche Menschen versagen, das macht ihn so wertvoll für seine Arbeitgeber von der auf die Lösung komplexer Problemfälle spezialisierten Agentur Phipps & Wexman. Für den Aufbau sozialer Beziehungen allerdings ist diese Begabung allerdings eher hinderlich. Hesketh Lock leidet (wie ein anderer großer Detektiv der Weltliteratur) am Asperger-Syndrom, einer milden Form des Autismus. Das macht ihn nicht nur zu einem brillanten Ermittler, sondern lässt ihn auch als Ich-Erzähler bemerkenswert unterkühlt agieren.
Dem Roman tut diese Sachlichkeit gut. Liz Jensen versteht es, Spannung zu erzeugen und dabei auf vordergründige Horroreffekte zu verzichten. Dass es in diesem apokalyptischen Epos letztendlich um die ganz großen Menschheitsfragen geht, schadet ebenso wenig wie die Ausflüge in die wunderbare Welt der Experimentalphysik. Die Schuld an der globalen Katastrophe, der Lock auf die Spur kommt, mal wieder irgendwelchen Außerirdischen anzulasten, wäre schließlich auch nicht sehr originell gewesen.
Joachim Feldmann
Liz Jensen: Die da kommen (The Uninvited, 2012). Deutsch von Susanne Goga-Klinkenberg. München: dtv 2013. 316 Seiten. 14,80 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.