Die Akademikerin
– In den vergangenen Wochen war das westafrikanische Land Nigeria in den Medien präsent wie selten. Rund 200 von der Terrorgruppe „Boko Haram“ verschleppte Schülerinnen werden nach wie vor vermisst, mittlerweile drei Bomben explodierten auf nigerianischen Schulhöfen und die Regierung scheint hilflos. „Westliche Bildung ist Sünde“ lässt sich der Name der Täter übersetzen, im Namen des Islam versuchen sie Mädchen von Bildung fern zu halten. Wie aktuell das Patriarchat auch unter der normalen Bevölkerung in Nigeria noch heute ist, zeigt der vor diesem Hintergrund noch brisantere Debüt-Roman „Die geheimen Leben der Frauen des Baba Segi“ von Lola Shoneyin, der auf Platz 1 des „Weltempfängers“, der Bestenliste der Litprom, steht. Von Sophie Sumburane
Der alternde Patriarch Baba Sagi lebt in Nigeria mit seinen drei Ehefrauen und den sieben Kindern in scheinbarer Eintracht, bis die hübsche Bolanle als vierte dazu kommt und das Gleichgewicht im Haus zu kippen droht. Denn die junge Frau ist anders, als die älteren drei. Sie ist Akademikerin und tut das, wovor ihre eigene Mutter sie stets gewarnt hat. Also was will sie hier, was nur?
Eine Frage, die sich nicht nur für den Leser durch das gesamte Buch zieht. Bolanle ist ein Fremdkörper und sieht sich im Verlaufe ihres Lebens im Haus mit allerlei Feindseligkeiten konfrontiert, die die Autorin mit viel Ironie vor dem Leser entfaltet. „Die geheimen Leben der Frauen des Baba Segi“ ist ein Roman, der sich mit ernsten Themen befasst, ein frauenfeindliches Lebensmodell darstellt und dennoch auch als Satire daherkommt. Gekonnt wechselt Shoneyin zwischen Ernsthaftigkeit und Witz, ohne in eine Richtung Grenzen zu überschreiten.
So wirken auch die Figuren lebensecht und nahe und selbst Baba Segi erscheint beinahe sympathisch in seiner Verzweiflung über Bolanles Kinderlosigkeit. Denn während die Neue sich mit den Kindern der anderen Frauen gut versteht, was die Ehefrauen sehr ungern sehen, will es bei ihr mit dem Schwanger werden einfach nicht klappen. Baba Segi, der trotz der deutlichen Kritik der Autorin am misogynen System nie als liebloses Ungeheuer beschrieben wird, macht an dieser Stelle gar eine Art Eingeständnis an den Bildungsstand seiner vierten Frau und erspart ihr den Gang zu seinem traditionellen, deutlich zwielichtigen Heiler – und begleitet sie stattdessen ins Krankenhaus. Diese Szenen, in denen der alternde, selbstverliebte Patriarch mit den Medizinern zusammen trifft, sind es auch, bei denen der Leser am herzhaftesten lachen kann – ohne, dass sich dabei über Baba Segi lustig gemacht werden würde.
Denn Shoneyin schafft es ganz großartig, dem Leser die Figuren in all ihren Gegensätzlichkeiten nahe zu bringen, ohne sie zu denunzieren. Indem sie nicht nur aus der Perspektive der gebildeten Bolanle, sondern auch aus der der anderen drei Frauen und Baba Segi selbst berichtet, erfährt der Leser unterschiedliche Sichtweisen desselben Geschehens. Beeindruckend ist dabei die Empathie, mit der Shoneyin sich in Frauen hineinversetzen kann, die derart weit von ihr selbst entfernt sind. Der Leser erfährt nicht nur von den Feindseligkeiten gegen Bolanle, sondern auch von den Ängsten der Frauen, ihren Wünschen und Träumen und versteht, warum sie im Angesicht der gebildeten Neuen gar nicht anders handeln können. Nicht zuletzt liest man von den Wegen, die die Frauen ins Haus von Baba Segi geführt haben. Wege, die erneut – subtil – erkennen lassen, wie wenig eine ungebildete Frau noch im Nigeria von heute wert zu sein scheint.
Literarisch gelungener Roman über wichtige Themen
Es ist die wohl wichtigste Aussage des Buches, dass Bildung für Mädchen obligatorisch sein sollte. Etwas, dass uns als völlig selbstverständlich erscheint, gerade für ärmere Familien in einem Land wie Nigeria aber eine Errungenschaft darstellt. Das Buch zeigt aber auch, dass es – nicht nur unter den Muslimen – vor allem Männer gibt, die den Mädchen und Frauen dieses Recht nicht zuerkennen wollen, weil sie ihr eigenes Lebensmodell bedroht sehen. Eine Gefahr, die der nigerianische Mann schon seit Generationen kennt und fürchtet. Und diese Angst scheint auch zumindest ein Grund dafür zu sein, warum es Terroristen wie Boko Haram möglich war, 200 Schülerinnen zu entführen, ohne gefunden zu werden.
Doch auch eine gebildete Frau landet bei, wie Bolanles Mutter ihn nennt, „dem überfütterten Orang-Utan“, und scheint sich in ein Leben, in dem es für eine Frau das wichtigste zu sein hat, möglichst viele Kinder zu bekommen, einzupassen, obwohl die eigene Mutter sie stets vehement davor warnt. Warum?
Erst gegen Ende des Romans erfährt die Mutter davon, dass ihre älteste und bis dahin zielstrebige und mit den Wünschen der Mutter konform gehende Tochter Opfer einer Vergewaltigung wurde. „Du kannst nicht vergewaltigt worden sein! Keine meiner Töchter wird vergewaltigt. So habe ich euch nicht erzogen!“, weiß die Mutter im Angesicht dieser Enthüllung sich für die vielen Anklagen zu rechtfertigen. „Ich wollte dir die vollkommene Tochter sein, ich wollte dich nicht enttäuschen“, begründet Bolanle ihr jahrelanges Schweigen. Baba Segi erwartete von ihr keine intellektuellen Höchstleistungen wie die Mutter, nahm sie einfach so, wie Bolanle in ihrer durch das Trauma ausgelösten Depression war und half ihr dadurch unbewusst, den Weg hindurch gehen zu können. Auch in dieser Thematik steckt eine Menge Brisanz und eine Anklage durch die Autorin. Oft sind die Opfer von Vergewaltigungen, wenn sie diese öffentlich machen, stigmatisiert und werden so zu noch größeren Opfern. Doch das Schweigen bleibt nie ohne Folgen, wie Lola Shoneyin zeigt.
„Die geheimen Leben der Frauen des Baba Segi“ ist ein bedeutender Roman voller wichtiger, intelligent verpackter Aussagen. Mit seiner bildreichen Sprache und der überzeugenden Konstruktion, gebaut wie von einer erfahrenen Schriftstellerin, ist das Debüt absolut lesenswert und ein wichtiges Stück – nicht nur nigerianischer – Zeitgeschichte.
Sophie Sumburane
Lola Shoneyin: Die geheimen Leben der Frauen des Baba Segi. Übersetzt von Susann Urban. Edition Büchergilde, 2014. 352 Seiten. 22,95 Euro. Zur Bestenliste Weltempfänger.