Ansichten eines Expropriateurs
– In seinen Erinnerungen „Baustelle Revolution“ erzählt der spanische Anarchist Lucio Urtubia aus seinem zuweilen abenteuerlichen Leben als „Expropriateur“ und Dokumentenfälscher im Dienste der Revolution. Leider werden die Memoiren am Ende von einem Wust von Bekenntnissen überwuchert. Von Jörg Auberg
„Spanien ist die klassische Heimat des Anarchisten“, konstatierte John Dos Passos in seinem Spanien-Buch „Rosinante to the Road Again“ (1922). Aus New York kommend, der „märchenhaft prosaischen Stadt des kapitalistischen Automatismus“ (wie Leo Trotzki die Metropole an der amerikanischen Ostküste nach seinem Aufenthalt im Winter 1917 genannt hatte), betrachtete Dos Passos Spanien – bis zur symbolischen Niederlage der antistalinistischen Linken in Barcelona 1937 – als Gegenentwurf zur kapitalistischen Maschinerie, die das hochindustrialisierte Amerika mit der Zerstörung des Individualismus darstellte.
Listige Unternehmungen eines Underdogs
Der archaischen Landschaft entstieg auch der Anarchist Lucio Urtubia, der einem imaginären Protagonisten aus Dos Passos’ spanischen Projektionen gleichen könnte. 1931 in einem kleinen Dorf in Navarra geboren, wuchs er in einfachen, ärmlichen Verhältnissen auf und emigrierte nach seiner Desertion aus der Armee nach Paris, wo er als Maurer und Fliesenleger arbeitete, der in seiner Freizeit für linksradikale Gruppen gefälschte Dokumente erstellte und Geld für Widerstandsaktionen beschaffte. Sein Handwerk als „Expropriateur“ erlernte er bei dem legendären spanischen Guerillero Francisco Sabaté, der 1960 von spanischen Zivilgardisten getötet wurde. Seine Erinnerungen, die bereits in Frankreich und Spanien erschienen sind und nun auf Deutsch vorliegen, berichten von seinem Aufwachsen in der autoritären, repressiven Kultur des traditionalistischen Spaniens in der Zeit der Franco-Diktatur, in der der junge Lucio unter dem Regime der Priester und Lehrer zu leiden hat. Die herrschaftlichen Verhältnisse verweigern ihm eine Bildung, da er früh für sich und seine Familie den Lebensunterhalt erarbeiten muss. In den Beschreibungen des kargen, von Armut gezeichneten Lebens in der spanischen Provinz korrigiert Urtubia mit seiner realen Erfahrung die Verklärung der dörflichen Kultur Spaniens, wie sie der Mittelklasse-Bürger Dos Passos in einer romantisierenden Verzerrung als pastorale, antikapitalistische Vision außerhalb der tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse zeichnete.
Stellenweise blitzt der pikarische Charakter des spanischen Underdogs auf, der sich nicht nur gegen die Vertreter der Staatsmacht, die ihm aufgrund seiner illegalen Aktivitäten nachstellen, sondern auch zuweilen listig die Repräsentanten der Herrschaft für sich und seine Interessen einzunehmen weiß. So wendet er sich nicht allein erfolgreich gegen die Nachstellungen der französischen Steuerbehörden oder spannt einen konservativen Lokalpolitiker für die Bestandssicherung einer anarchistischen Druckerei ein, sondern schildert auch Absurditäten des politischen Alltags: Als im Jahre 1975 der spanische Prinz Juan Carlos Frankreich einen Besuch abstattete, wurde der spanische Anarchist Urtubia kurzerhand auf die südbretonische Ferieninsel Belle-Ile-en-Mer verbannt, bis der Prinz Frankreich wieder verlassen hatte.
Simple Speaks His Mind
Im Verlauf der Memoiren gewinnt jedoch ein Moment ideologischer Borniertheit die Oberhand gegenüber der persönlichen und geschichtlichen Erfahrung. Je weiter sich Urtubia in seiner selbstgewissen und damit auch selbstgefälligen Existenz des Revolutionärs im Stile von Dostojewskis Untergrundling einrichtet, umso schematischer wird der Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse: Auf der einen Seite stehen Kontrahenten wie „die Politiker“, „die Intellektuellen“ oder „die Stalinisten“, während sich Urtubia und seinesgleichen (zumeist als „Compañeros“ deklariert) im moralischen Rigorismus auf der richtigen Seite der Barrikade wähnen. „Enteignungen“ und andere Aktionen für militante Gruppen wie die verschiedenen Ausprägungen der ETA, Tupamaros oder Action Directe sind legitime Handlungen im Kampf für eine bessere Welt: „Stehlen ist“, postuliert er, „ein revolutionärer Akt – wenn du es für eine gute Sache tust und nicht zum eigenen Vorteil.“ Diese Moral ist ebenso schlicht wie Urtubias wiederholtes Bekenntnis zum Wert der Arbeit, die „die Grundlage für alles“ sei. In dieser Erkenntnis mag der Stolz des Handwerkers für seine geleistete Arbeit mitschwingen, aber darin drückt sich auch eine Borniertheit aus, die Urtubia niemals über die eigene persönliche Erfahrung hinausblicken lässt. Während er vollmundig für Bildung und Kultur eintritt, lässt der anarchistische Praktiker dem seit Bakunin zum Inventar des Anarchismus gehörenden Antiintellektualismus freien Lauf, indem er gegen „leere Theorien“ schwadroniert und im Tunnelblick Jean-Paul Sartre einzig als „aktives Mitglied in den Reihen unserer stalinistischen Gegner“ wahrnimmt. Gern präsentiert sich der anarchistische Maurer als Agent der Freiheit, doch ist er in seinem Denken und Urteilen ideologisch eingemauert und kopiert, ohne dass er es merkt, eben jene Praktiken „der Stalinisten“, die er zu attackieren vorgibt.
Das dritte Buch Lucio
Je weiter der Text voranschreitet, desto mehr verlieren sich die Erinnerungen in einer Litanei von Ansichten und Statements. In der französischen Erstausgabe, die 2005 unter dem Titel „Ma morale anarchiste“ erschien, kürzte der Verlag Urtubias Manuskript stark. „Zu Lucios Enttäuschung fand sich in dem Buch vieles, was er geschrieben hatte, nicht wieder“, kommentieren die deutschen Herausgeber im Vorwort. Leider erstarrte der deutsche Verlag in Ehrfurcht vor der „Legende“ des Sozialrebellen Urtubia, der „etwas zu sagen hat“, aber nach eigenem, zweifellos zutreffenden Urteil nicht schreiben kann. Schon der spanische Autor und Übersetzer Francisco Rodríguez de Lecea schwärmte von Urtubias Sätzen: „Sie waren direkt, überzeugend, wie in Granit gehauen. Der Versuch, diesen Stil beizubehalten, war der Mühe wert.“ So wird das mit Kugelschreiber geschriebene Manuskript zum sakralen Text überhöht, der zwar in eine lesbare Form gebracht werden muss, aber nicht gekürzt oder gestrafft werden darf, um das vorgeblich „Authentische“ nicht zu zerstören. So enthalten die Erinnerungen nicht allein den „Rohstoff der Erfahrungen“ (Walter Benjamin), sondern sind auch von überflüssigem Material wie einem Brief an den spanischen Ministerpräsidenten Zapatero oder diversen ideologischen Ein- und Auslassungen umwabert, die einen Erzählfluss (wie elliptisch oder achronologisch er auch immer sein mag) kontinuierlich kontaminieren und letztendlich ganz zerstören. Am Ende triumphiert der anarchistische Rechthaber, der dieses Buch dazu nutzt, die Welt so zu beschreiben, wie er sie sieht, um die eigene Wichtigkeit im Lauf der Dinge zu unterstreichen.
An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen Sabaté und seinem selbsternannten Schüler Urtubia deutlich. Auch Sabaté war kein vielbelesener, intellektueller Revolutionär, aber auch keinesfalls ein „blutrünstiger Analphabet“, wie die spanische Presse ihn pflegte zu titulieren. Von einer ständigen Unruhe angetrieben und mit einem hemingwayesken Heldenkodex von Mut, Integrität und Ausdauer ausgestattet, konnte er sich nur in der Aktion verwirklicht sehen, die ihm schließlich das Leben kostete. Sein Stil war karg und knapp. Mittels eines selbstgebauten Mörsers schoss er Flugblätter durch die Straßen Barcelonas, und er besprach Tonbänder, die er mit vorgehaltener Waffe in Cafés und Kneipen abspielte. An das Schreiben einer Autobiografie war nicht zu denken. Dazu ließ ihm seine Unruhe nicht die Zeit. Der Vergessenheit entrissen ihn Autoren wie Eric Hobsbawm, der Sabaté in seinem Buch „Bandits“ (1969; erweitert 2000) als Paradebeispiel des Expropriateurs beschrieb, oder Antonjo Tellez, der den Guerillero in seinem Buch „Sabaté: Stadtguerilla in Spanien, 1945–1960“ (1974) in einem breiten politischen Kontext darstellte. Dagegen wirkt Urtubia wie ein selbstgefälliger, geschwätziger Bramarbas, der zum wiederholten Mal seine Bedeutung hervorheben möchte, hinter der Sartre oder gar die anarchistische Intellektuelle Federica Montseny verblassend im Hintergrund verschwinden. Am Ende erweist er seinem Anliegen, Erfahrungen an Generationen nach ihm weiterzugeben und eine „Geschichte von unten“ zu erzählen, einen Bärendienst.
Jörg Auberg
Lucio Urtubia: Baustelle Revolution. Erinnerungen eines Anarchisten (La Revolución por el tejado, 2008). Aus dem Spanischen übersetzt und bearbeitet von Alix Arnold und Gabriele Schwab. Berlin/Hamburg: Assoziation A 2010. 256 Seiten. 19,80 Euro.
Mehr zu Lucio Urtubia. Unter dem Titel „Anarchist und Maurer“ ist auf Youtube ein siebenteiliger, untertitelter Dokumentarfilm über Lucio Urtubia zu finden. Ein Video-Interview auf Spanisch können Sie hier sehen.