Freilaufende Bullen
Der ehemalige ZDF-Sportreporter Marcel Reif beschreibt in „Nachspielzeit“ nicht nur faszinierende Höhepunkte seines Lebens mit dem Fußball; er reflektiert auch über aggressive Dumpfbacken-Traditionalisten und über ein System, das sich mit Milliarden vollpumpt und aus dem Ruder läuft. Von Peter Münder
„Die FIFA müsste sich ja reformieren. Aber wie soll sich eine super funktionierende Geldmaschine selbst abschalten, auflösen, auseinanderbauen und wieder zusammenbauen. Wie soll das gehen? Im Gegenteil: Die Maßlosigkeit treibt weiter aus. Eine EM in 13 Ländern, zwischen Dublin und Baku. Um eine WM mit 48 Teilnehmern könnten sich gemeinsam bewerben die USA, Kanada und Mexiko … ausgetragen wird das Championat der Reiseveranstalter. Irrsinn“. Marcel Reif, Nachspielzeit
Als der achtjährige Marcel Reif mit seiner polnisch-jüdischen Familie nach Kaiserslautern kam, sprach er nur polnisch, lernte mühselig Deutsch und war der notgedrungen tolerierte Außenseiter. Dann wirbelte und dribbelte er quirlig in einer Fußballgruppe, in der es völlig gleichgültig war, welche Sprache er beherrschte: „Fußball und Kaiserslautern waren meine Rettung, immer wird der 1. FC Kaiserslautern der Verein meines Lebens bleiben“, schreibt er. Und wenn er das Lob der Provinz singt, die ihn mit solcher Wärme aufnahm, dann hört sich das tatsächlich nach Glück und Begeisterung an. Was sich dann jahrelang fortsetzte, als er beim FCK und dann in anderen Vereinen spielte.
Das ist das Entscheidende und Überzeugende, wenn Reif sich über Fußball (oder Eishockey und andere Sportarten) äußert: Er kennt alle Finessen, ihm kann keiner was erzählen von der „falschen Neun“ oder der „gekippten Sechs“. Er ist Purist, begeistert sich für spannende Spiele, für grandiose Ballartisten, für die Emotionen, die echte Fans aufwühlen.
Aggressive pyromanische Ultras kotzen ihn ebenso an wie Wichtigtuer-Funktionäre oder unbelehrbare Traditionalisten, die unbedingt ihre Feindbilder – wie etwa das vom Red Bull-Chef Mateschitz mit seinen Brausemillionen finanzierte und aufgebaute Team von RB Leipzig – pflegen wollen. Im Kapitel „Freilaufende Bullen“ macht er sich Luft zu diesem Phänomen: „Natürlich ging es den Leuten von Red Bull um Geld, wie es allen Investoren im Fußball um Geld geht. Was ist daran jetzt schlimm? Sollen wir die Kräfte der freien Marktwirtschaft außer Kraft setzen? Sonst gelten sie überall, aber im Fußball hebeln wir sie aus?“ Nicht der geringste Nebeneffekt ist laut Reif auch eine neue Form der Identität, die sich um den RB Leipzig entwickelt hat: „Hier hast du eine Wagenburg gegen den Rest der Welt. Vom Bürgermeister bis zum Schuhputzer“.
Gegen die Geldmaschine
Sein Idealismus ist auf den wahren Enthusiasmus echter Fans, auf Vereine ohne aufgeblasene Geldmaschinerie, eigentlich auch auf Spieler fixiert, die es kaum noch gibt: Typen, wie ehedem Uwe Seeler, die sich vom schnöden Mammon nicht zu anderen Vereinen locken lassen und bei „ihrem“ Club bis zum Ruhestand weiterspielen.
Der schwer zu ertragende Kontrast zu den kickenden millionenschweren Legionären unserer Tage führt dann zu seinen Invektiven und harsch formulierten Bestandsaufnahmen, die im dominierenden lauen Mainstream-Feuilleton dieser Tage absolut wohltuend sind: „Die Verbrecher in den Verbänden können sich anstrengen, wie sie wollen. Der Fußball wird stärker sein. Der Fußball kann Menschen retten. Ich muss das wissen. Ich habe es erlebt“. Klarer Fall: Dies ist das Credo des 68-jährigen Marcel Reif, sein biographisch fundiertes Manifest.
Während seiner WM-Reportagen hat er vor Ort angewidert zur Kenntnis genommen, mit welcher Kaltschnäuzigkeit Funktionäre jeden Bezug zur Basis, zu den tatsächlichen Lebensbedingungen der Ärmsten in unterentwickelten Ländern ignorieren. Als die FIFA zur südafrikanischen WM 2010 entschied, in Durban neben das bestens für die WM geeignete 60 000 Zuschauer fassende Rugby-Stadion noch ein gigantisches Fußball-Stadion zu bauen, war er absolut angeekelt von der FIFA-Clique und ihrer Machenschaften. Denn für das Geld, das das Stadion gekostet hat, hätte man 300 000 Leuten Wohnungen mit Wasser und Strom bauen können: „Wenn wir über Weltmeisterschaften reden, reden wir nur noch über Dreck“, flucht er, „die drehen an der Schraube und drehen und drehen – aber wenn die Schraube überdreht ist, bricht sie“. Seine Furcht, die in ihm hochkocht, basiert darauf, dass „das viele Geld, der Gigantismus, die Gier sich irgendwann verbinden könnten zu einem tödlichen Gift für die weltweite Fußballbegeisterung“. Wer wollte da widersprechen?
Was Jürgen Klopp forderte, als er bei den Liverpool Reds als neuer Trainer antrat – „Vergessen wir das Geld, wir denken jetzt über den Fußball nach“ – das würde Reif genauso sehen. Das Schauspiel extremer Emotionen, das Fest für die Ewigkeit, das der 4:3 Sieg der Reds gegen den lange führenden BVB (CL Spiel April 2016) lieferte, das ist so ein rarer Extrem-Event, von dem die Fans noch jahrelang später zehren und den Reif natürlich genauso intensiv ausgekostet hat.
Reif redet Klartext, auch in den hier abgedruckten Gesprächen mit seinem Ko-Autor, der SZ- Edelfeder Holger Gertz. Diese Offenheit hat ihm oft Häme und Hass von ausgerasteten Dumpfbacken beschert, die man nicht mehr als „Fans“ bezeichnen kann. Er wurde als Bayern-Fan beschimpft, als Drecksau usw. und er zitiert hier absolut widerliche Twitter- Idioten-Kurztexte bis hin zur Morddrohung, gegen die er juristisch vorging.
Echte Liebe beim BVB
Es ist schon beeindruckend, wie locker er in seinen Erinnerungen an fabelhafte Spiele, große Skandale und kleine berührende Episoden aus dem Spieler-Umfeld mit seinen Beobachtungen und Analysen das Spektrum rund um den Ball ausweiten und vertiefen kann. Egal, ob es um die Geldmaschine, die „Fetische“ und Trikotfarben oder um die Vereins-Identität bzw. Tradition des FC Bayern oder BVB geht. Bei den Bayern, meint Reif, kriegen sie noch eine vernünftige Mischung aus Tradition und Reformeifer hin (trotz Peps eher abstrakter Tiki-Taka-Kalkulationen) „und sie wissen: So müssen wir sein“ – na ja, darüber kann man auch anders denken. Und beim BVB sei es eben umgekehrt: Da sei der Klub sinnstiftender als die Stadt. Dortmund und die „echte Liebe“: „Ein Spiel mit der Idee, dass ein Gefühl am Ende wichtiger ist als eine Bilanz, die Solidarität lebendiger als die Sammlung kalter Pokale in der Vitrine“.
Der Reporter mit dem scharfen analytischen Blick hat auch die Krisenfestigkeit und Crash-Immunität der Dortmunder registriert: „Oft die Champions League erreicht, mit Klopp den richtigen Trainer geholt … Sie haben das Ruhrgebiets-Currywurst-Aroma verbunden mit den Prinzipien eines klar strukturierten Wirtschaftsunternehmens…“ Ok, inzwischen weht der Wind auch beim BVB wieder etwas schärfer zwischen das Currywurst-Aroma. Aber als BVB-Fan bin ich dafür dankbar, dass das jährliche HSV-Flagellanten-Ritual während der Relegationsphase als unbedeutender symbolischer Pseudo-Kraftakt an mir vorbei geht; daher lasse ich das mal mit der „echten Liebe“ so stehen, auch wenn es nach geschicktem Marketing vor dem Börsengang klingt.
Marcel Reifs „Nachspielzeit“ ist jedenfalls ein brillanter Mix, der ein hohes Lesevergnügen bietet: Brisante Analysen, romantisch eingefärbte Episoden, klare Kante gegenüber FIFA-Bonzen und deren Machenschaften und gegenüber verblödetem Twitter-Pöbel. Seinen Schwachpunkt – Reden ohne Luft zu holen, weiter schwadronieren, wenn vor dem Tor alles lichterloh brennt – den kennt er selbst. Aber über allem schwebt hier die romantisch anmutende Begeisterung für den echten Fußball. Kein Wunder, dass ihm ein wahrer Fan einmal schrieb: „Unter den Arschgeigen bist du die Stradivari“.
Peter Münder
Marcel Reif (mit Holger Gertz): Nachspielzeit. Ein Leben mit dem Fußball. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 235 Seiten. 19,99 Euro.