Familienalbum
Moralische Unordnung ist ein persönliches Buch: keine Autobiographie im eigentlichen Sinne, eher der Versuch, Erinnerungsfragmente vor dem Vergessen zu bewahren. Von Petra Vesper
Ein wenig schummelt der Berlin Verlag, wenn er Margaret Atwoods neues Buch als einen „Roman“ annonciert. Tatsächlich versammelt Moralische Unordnung elf Prosastücke, die zum Teil im englischen Original bereits in den letzten Jahren in verschiedenen Magazinen veröffentlicht worden sind – die Originalausgabe erschien folgerichtig unter dem Titel Moral Disorder and other Stories. Anscheinend ist es hierzulande aber immer noch so, dass sich Romane besser verkaufen lassen als Erzählungsbände – selbst bei einer so berühmten und renommierten Autorin wie Margaret Atwood.
Hintereinander gelesen fügen sich die Erzählungen zu einer Art fiktionaler Autobiographie der kanadischen Autorin. Zentrale Figur der Erzählungen – überwiegend in der Ich-Form geschrieben – ist Nell, die durchaus als fiktionales Alter Ego von Margaret Atwood gedeutet werden kann. Nell hat etwa den gleichen Jahrgang wie die Autorin, ist Tochter eines Insektenforschers, hat Literaturwissenschaften studiert und als Lehrerin und Universitätsdozentin gearbeitet. Die Erzählungen sind weitestgehend chronologisch angeordnet, nur die erste fällt aus dieser Reihe heraus. Sie spielt in der Gegenwart, stände in der Chronologie also eigentlich an letzter Stelle, und bildet so etwas wie ein Entrée für das, was folgt: Ein älteres Ehepaar, Nell und Tig, starten gemeinsam in den Tag. Er konfrontiert sie noch im Bett mit den schlechten Nachrichten in der Zeitung, „will sie so schnell wie möglich weitergeben – sie loswerden wie glühende Kohlen“. Sie will noch nichts davon hören, will unbehelligt von schlechten Nachrichten noch eine Weile im Bett liegen. Rituale einer lange währenden, eingespielten Beziehung – mit einer langen Vergangenheit und einer überschaubaren Zukunft: „Wir leben in einem kleinen Fenster dazwischen, im Raum, den wir erst vor kurzem noch kennengelernt haben…“ Von dieser Gegenwart aus geht in den folgenden Erzählungen der Blick zurück in die Vergangenheit. Schlaglichtartig richten diese den Blick auf einzelne Stationen im Leben von Nell. Es ist, als blättere man in einem alten Familienalbum mit vergilbten Fotos: Auch diese Momentaufnahmen erzählen bruchstückhaft eine Lebensgeschichte – gleichzeitig bleibt vieles im Dunklen.
Moralische Unordnung erzählt somit eine Familiengeschichte aus einer dezidiert weiblichen Perspektive: Nell als Elfjährige, die ihre panische Angst um ihre schwangere Mutter durch manisches Stricken einer Babyausstattung kompensiert, Nell als große Schwester, die als Einzige mit der schwierigen kleinen Schwester klarzukommen scheint, Nell als wissbegierige Schülerin, die sich so gar nicht mit den traditionellen Frauenrollen des klassischen Literaturkanons identifizieren kann, Nell als Geliebte von Tig, der sich nur in einem langwierigen Prozess aus seiner Ehe lösen kann, Nell, wie sie sich gemeinsam mit Tig als Farmerin versucht, und schließlich: Nell als Tochter ihrer Eltern, die zusehends alt und gebrechlich werden.
Der Figur des Tig entspricht im „realen Leben“ Graeme Gibson, ebenfalls Schriftsteller und seit vielen Jahren Lebensgefährte von Margaret Atwood. Ihm verdankt sie auch den Titel Moralische Unordnung – anscheinend der Titel eines unveröffentlichten Manuskriptes von ihm: Als beide in den 70ern beschlossen, ohne Trauschein zusammenzuleben und eine Familie zu gründen, galt das in der Generation ihrer Eltern noch als ein Skandal.
Moralische Unordnung ist ein persönliches Buch: keine Autobiographie im eigentlichen Sinne, eher der Versuch, Erinnerungsfragmente vor dem Vergessen zu bewahren: „Was hätte ich sonst mit alldem machen sollen… All den Ängsten und all der Wut, diesen zweifelhaften guten Absichten, diesem verknäulten Leben, dem Blut. Ich kann davon erzählen, oder ich kann es begraben. Letztlich werden wir alle zu Geschichten…“
Indem Margaret Atwood einige Handlungsfäden dieses Lebensknäuls entwirrt hat, ist ihr ein sehr wahrhaftiges Buch gelungen.
Petra Vesper
Margaret Atwood: Moralische Unordnung. Deutsch von Malte Friedrich. Berlin Verlag 2008. 254 Seiten. 19,90 Euro.