Polnischer Mainstream
‒ Gesellschaften im Umbruch produzieren meistens spannende Kriminalliteratur. Manchmal mit eigenen Themen und Strukturen. Manchmal aber auch schon für den internationalen Markt stromlinienförmig designt. Möglichst überall gelesen und verstanden werden zu wollen ist nichts Schlimmes, au contraire. Nur manchmal hapert es noch ein wenig mit der Balance. Mariusz Czubajs Roman „21:37“ ist so ein Fall. Eine Besprechung von Thomas Wörtche.
Kriminalliteratur hat als globales Verständigungssystem ein paar einfache Figuren und Standardsituationen entwickelt, die nationale, regionale und kulturelle Unterschiede integrieren können. Etwa so: Menschen werden mit Plastiktüten erstickt und zur Auffindung dekorativ arrangiert. Die örtliche Polizei kommt nicht weiter. Ein Spezialist, ein Profiler, wird von außerhalb geholt. Er ignoriert die üblichen falschen Fährten und stößt ins Herz der Finsternis vor. Das ist auch die Konstellation des polnischen Krimis „21:37“ von Mariusz Czubaj, der gerade im Prospero Verlag erschienen ist – ein Verlag, der sich schwerpunktmäßig der polnischen Kriminalliteratur widmen möchte.
Polnische Kriminalliteratur war schon immer auf dem deutschsprachigen Markt präsent, eher unauffällig und still, Namen wie u. a. Tomasz Konatkowski, Leszek Herman oder Joanna Chmielewska haben sich nicht ins kollektive Gedächtnis deutscher Krimileser eingeprägt, was eher etwas über Letztere sagt, wenn überhaupt. Allerdings haben Marek Krajewskis brillante und provokative historische Breslau-Thriller seit den späten 1990s alles andere überwölbt, was aus Polen kam. Sein Konzept und das production design (das deviante „Breslau“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Schauplatz und Metapher) waren viel zu eigenwillig, um eine Art „Polenwelle“ auszulösen.
Czubaj dagegen ist durchaus auf der Höhe des internationalen Krimi-Mainstreams. Vermutlich viel zu sehr: Der Zahlentitel (gemeint ist hier, vielleicht, der Todeszeitpunkt von Papst Johannes Paul II aka Woytila, vielleicht aber auch ein Bibelzitat aus dem Buch Hezekiel, eines von diesen blutrünstig-düsteren alttestamentarischen noir antique-Dingern mit Schwert & Blut), die Hauptfigur – der exzentrische Profiler Rudolf Heinz („wie der Ketchup“) – und das Setting an den Schnittstellen von Klerus, Profitgier und Politik – das ist formula fiction pur. Auch dass ein Priesterseminar (von dort kommen die beiden Leichen vom Anfang) kein Ort voller Heiliger ist (obwohl: Sacro-Pop ist schon schön schräg) und Gangster-Kapitalisten seltsame sexuelle Vorlieben haben, aber bestens mit der offiziellen Politik vernetzt sind, die auch der Polizei die Arbeit schwer machen kann – das alles ist kaum trennscharf als typisch polnische Konfliktlage zu werten. Genauso wenig wie das Fortleben einer totalitären Polizeistruktur in einer neuen demokratischen Gesellschaft – ein Thema, das seit Jahrzehnten vor allem von spanischen und südafrikanischen Autoren bearbeitet wird. Czubaj schlägt sich dabei ordentlich, man merkt, dass all das Themen sind, die ihm am Herzen liegen, die aber dummerweise anderswo schon radikaler und profunder bearbeitet worden sind.
Richtig schlecht oder richtig gescheitert ist der Roman nicht. Er hat ein paar Qualitäten im Unscheinbaren, im nicht groß zum Thema Gemachten – in den lebensweltlichen Details einer Gesellschaft im Umbruch, mit ihren Opportunisten und Gewinnern, ihren Verlierern und Abgehängten. Mariusz Czubaj lässt den Außenseiter Rudolf Heinz, den Deutschstämmigen in einer manchmal explizit germanophoben Gesellschaft, und Elitären, der Rock spielt und Robert Johnson hört, ganz klassisch eine Innenbesichtigung seiner Umwelt vornehmen. Er hört den Leuten zu, im Zug, in der Kneipe, auf der Straße – und daraus ergibt sich ein sensibleres Bild der polnischen Befindlichkeiten im Jahr 2007, als der reine Kriminalfall hergibt. Immerhin – das Verbrechen, mit dem Rudolf Heinz es zu tun hat, ist global verstehbar und Polen, so gesehen, ein völlig normales Land unter anderen, in dem es eben global funktionierende Verbrechensnarrative gibt. Dennoch warte ich gespannt auf polnische Kriminalliteratur, die den anderen Weg geht: eine eigene Grammatik und Syntax für eine avancierte Kriminalliteratur. Denn bei allerlei Avantgarden waren die Polen immer weit vorne.
Thomas Wörtche
(Dies ist die erweiterte und überarbeitete Fassung einer Besprechung für DeutschlandRadio Kultur.)
Mariusz Czubaj: 21:37 (21:37, 2008/2013). Roman. Deutsch von Lisa Palmes. Münster/Berlin: Prospero Verlag 2013. 383 Seiten. 14,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch und zum Autor.