Warten auf den Wahnsinn
In naher Verwandtschaft zu Don DeLillo zeigt Costello uns eine paranoische Gesellschaft, die auf Kontrolle fixiert ist und die, um diese aufrecht zu erhalten, groteske Sicherheitssysteme aufbaut und in einem zerreißenden Zustand ständiger Bereitschaft lebt – ein in sich kreiselndes Paradox.
Beschaulich und mit einem leicht skurrilen Touch lässt Mark Costello seinen Böses ahnen lassenden Roman „Paranoia“ einsetzen: In Center Effing, einem kleinen Kaff an der Küste New Hampshires, umgeben von Salzwiesen und einem Air-Force-Stützpunkt, lebt zu Carters Zeiten die Familie Asplund. Vater Walter ist ein atheistischer Republikaner, der auf den Dollarscheinen den „god“ aus „In god we trust“ streicht und als Schadenssachverständiger für eine große Versicherung arbeitet. Unfälle, Brände und Katastrophen sind sein täglich Brot und auch seine Kinder – das kleine Mathe-Genie Jens und die zurückhaltende Vi – sehen schon früh Dinge, die sie nicht verstehen, die aber in ihrem Gedächtnis haften bleiben.
„In the Dome“
Zwanzig Jahre später arbeitet Vi als FBI-Agentin in der Abteilung Personenschutz und sorgt im Team von Gretchen Williams für die Sicherheit des Vizepräsidenten. Zusammen mit dem Reagan-Fan Tashmo, der „beim Sex mit seiner Frau patriotische Gefühle bekam“, der verführerischen Bobby, die es unwiderstehlich in den inneren Zirkel der Macht zieht, und weiteren Agenten setzen sie die Lehre des legendären Personenschutz-Theoretikers Felker in die Praxis um. In einer „Teufelsbibel“ hatte dieser das Undenkbare gedacht und alle Taktiken, Pläne und Attentatszenarios bis ins Letzte durchgespielt. Das Ergebnis: „The Dome“, die ultimative Hochsicherheitszone.
Vis Bruder Jens hat derweil Karriere bei der Computerfirma „BigIf“ gemacht und mit seiner „Monster-Logik“ ein virtuelles Abenteuerspiel programmiert, an dem Tausende in der ganzen Welt in Echtzeit teilnehmen: „Leben, Weisheit …, Schicksal, Magie, Schönheit, Tod – alles bestand aus unaufhörlich durch Algorithmen geschickte Zahlen – destruktiv, unkontrollierbar …“ Die Grenzen von Realität und Virtualität fließen hier ineinander und schaffen einen Raum, in dem nichts mehr unmöglich erscheint und kein Platz mehr für Moral ist.
Sublime Spannung
Unaufgeregt, locker und detailfreudig erzählt Mark Costello, der fast zehn Jahre in New York als Staatsanwalt arbeitete, vom alltäglichen Treiben und Tun seiner Protagonisten, vom scheinbar ganz normalen, banalen amerikanischen Leben zwischen McDonalds, Ehebruch und Präsidentschaftswahlkampf. Ganz sublim infiziert er den Leser dabei jedoch auch mit dem nagenden Gefühl, dass bald etwas passiert, dass der Wahnsinn bald ausbricht oder ein Abgrund sich auftut. Es ist das „BigIf“ – so auch der Originaltitel des Buches -, das im Off lauert und das in der amerikanischen Umgangssprache einen (bedrohlichen) Moment bezeichnet, der sich noch nicht greifen, noch nicht konkret fassen lässt.
In naher Verwandtschaft zu Don DeLillo zeigt Costello uns eine paranoische Gesellschaft, die auf Kontrolle fixiert ist und die, um diese aufrecht zu erhalten, groteske Sicherheitssysteme aufbaut und in einem zerreißenden Zustand ständiger Bereitschaft lebt – ein in sich kreiselndes Paradox. Ob es im- oder explodiert oder doch nur weiter im ereignislosen Lauf der Dinge verharrt, das sei an dieser Stelle nicht verraten.
Karsten Herrmann
Mark Costello: Paranoia. Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog. Goldmann, 416 S., 21,90 Euro. ISBN 3-442-30103-3