Geschrieben am 25. März 2015 von für Bücher, Litmag

Mark Thompson: Geburtsurkunde. Die Geschichte von Danilo Kiš

Thompson_24727_MR.inddRepräsentant & Märtyrer in Jugoslawien

– Mark Thompson erforscht „Die Geschichte von Danilo Kiš“. Von Wolfram Schütte.

In diesen Tagen wäre der jugoslawische Schriftsteller Danilo Kiš 80 Jahre alt geworden, wenn der Kettenraucher nicht schon 1989 im Alter von 54 Jahren gestorben wäre. Unter den Klassikern der europäischen Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg war Kiš – der Zeitgenosse von z.B. Kundera, Perec, Calvino, Gadda, Gustafsson, Goytisolo – der avantgardistischste Schriftsteller Jugoslawiens. Sein schmales, hochkonzentriertes & literarisch komplexes Oeuvre aus Romanen (z.B. „Garten, Asche“ & „Die Sanduhr“) & Erzählungen („Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“ & „Enzyklopädie der Toten“) ist tröpfelweise in verschiedenen Verlagen bei uns übersetzt & spät er- & anerkannt worden. Erst als sich Michael Krüger vom Hanser-Verlag um den Autor kümmerte & der Münchner Verlag Danilo Kiš systematisch postum edierte, offenbarte sich die literarische Physiognomie des eigenartig-eigenwilligen Autors in ihrer ganzen – düster-strahlenden – Größe.

Insofern ist es nur konsequent, dass Krüger nun als eine seiner letzten Aquirierungen vor seinem Ruhestand die monumentale „Geschichte von Danilo Kiš“ von Brigitte Döbert & der in Jugoslawien geborenen Autorin & Übersetzerin Blanka Stipetic übertragen ließ. Der in Oxford lebende britische Ost-Europa Kenner Mark Thompson hatte nach zwanzigjähriger Arbeit seine Recherche nach Danilo Kiš 2013 unter dem Titel „Geburtsurkunde“ publiziert.

Der Titel geht auf einen gleichlautenden, kurzen autobiographischen Abriss Kišs zurück. Die unausgesprochen literarische Pointe der Biomonographie Thompsons besteht darin, dass der Biograph sich zu diesem Kiš-Text verhält, wie es der Erzähler Danilo Kiš mit realen historischen oder fingierten literarischen Dokumenten hielt: als Exeget. „Um der Wahrheit nahezukommen sollte ein Buch über Kiš experimentell sein, enzyklopädisch und mit einem Hauch Epigonentum“, begründet Mark Thompson seine originelle Vorgehens- & Darstellungsweise. Sukzessive zitiert er den späten autobiographischen Text von Kiš, zerlegt ihn gewissermaßen in einzelne Passagen, die er jeweils kommentierend erweitert, so dass sowohl die existenzielle Biographie des Pannonischen Autors als auch die Geschichte Jugoslawiens entsteht, das sich aus der umklammernden Suprematie der stalinistischen Sowjetunion befreite, aber immer wieder deren militärischen Zu-& Angriff fürchtete. Weil aber Tito mit surrealistischen Künstlern der Vorkriegszeit befreundet war, hat sich das Dogma des „Sozialistischen Realismus“ in Jugoslawien nicht durchsetzen können.

IM000108.JPGKreuz- & Querzüge auf dem jugoslawischen Terrain

Wie Kiš an Lungenkrebs, so ist der Staat, dessen Bürger der zuletzt in Paris lebende Autor war & blieb, am Krebs des Nationalismus unendlich schmerzhaft zugrunde gegangen. Danilo Kiš musste Jugoslawiens Exitus, der den Autor unweigerlich exiliert hätte, nicht mehr erleben; aber wenn einer die prekäre Existenz des Vielvölkerstaats am eigenen Leib erfahren hat, dann Kiš, der gewissermaßen die ethnische Inkarnation des titoistischen Mixtum-compositum-Staats auf dem Balkan war. Für die sinnliche Erfahrung von Danilo Kiš´ geographischer Bewegung im Raum des ehemaligen Jugoslawien ist die dem Buch beigegebene Landkarte sehr hilfreich.

Als Sohn eines ungarischen Juden & einer christlich-orthodoxen Montenegrinerin 1935 im serbischen Subotica an der ungarischen Grenze geboren, überlebte Danilo die Pogrome in Novi Sad, wohin die Familie gezogen war, weil er schon 1939 getauft worden war. Die Kriegszeit verbrachte die Mutter mit ihren zwei Kindern in großer Armut in einem ungarischen Dorf; der 1944 deportierte Vater & seine gesamte jüdische Verwandtschaft wurden ermordet. Nach Kriegsende zog die alleinstehende Mutter mit Danilo & seiner jüngeren Schwester nach Cetinje (in der Nähe Dubrovniks), wo ihre Montenegrinische Verwandtschaft lebte.

Danilo Kiš studierte ab 1954 Vergleichende Literaturwissenschaft in Belgrad, wo er auch seine Frau kennenlernte, lehrte später als Lektor in Lille & Straßburg Serbokroatisch & lebte, nachdem er zwischen 1962 & 1983 mit seinem Oeuvre immer bekannter wurde, vornehmlich in Paris, wo seine Geliebte wohnte & in Belgrad, wo seine Frau lebte, von der er sich scheiden ließ. Beide Frauen haben Thompson bei seinen historischen & lokalen Recherchen geholfen – wie auch zahlreiche andere Zeitgenossen, Freunde & Bekannte des Schriftstellers, die der Brite während seiner jahrzehntelangen intensiven Vorarbeiten für die „Die Geschichte von Danilo Kiš“ aufgesucht hat.

In seiner Heimat war der nicht-, wo nicht gar antikommunistische Jugoslawe Danilo Kiš von neidischen Kollegen des Plagiats geziehen & sogar verklagt worden – eine infame Groteske, die er in seinem umfangreichsten Buch („Anatomiestunde“) nach Strich & Faden analysierte & mit genialem Witz & literarischem Wissen überlegen satirisch vernichtete. Im Verlauf seiner souveränen Abrechnung mit seinen einheimischen Kollegen stieß er nicht nur auf deren subversiven Antisemitismus, sondern auch auf die argumentative Verbindung von Nationalismus & Kommunismus, dessen explosives Gemisch bald nach Titos Tod den „Vielvölkerstaat“ Jugoslawien zerreißen sollte. Verständlich, dass der kosmopolitische Autor, der aus mehreren Sprachen Gedichte übersetzt hatte, eher das Gespräch mit Malern seiner Heimat, als mit seinen schreibenden Kollegen pflegte. Einige seiner damaligen Feinde sind später dann auch üble Nationalisten geworden.

Danilo Kiš, der „in seinen Büchern nicht einen Satz an die politischen Gemeinplätze verschwendet“ hat (Milan Kundera) & nie mit dem Kommunismus liebäugelte – weder dem stalinistischen, noch dem titoistischen –, aber aufgrund seiner prekären ethnisch vielseitigen Herkunft das schützende Dach des de jure a-nationalistischen Jugoslawien sein Leben lang schätzte, sah sich aber schon zu seiner Zeit gezwungen, das Serbokroatische, in dem er schrieb, immer wieder gegen nationalistische serbische & kroatische Kollegen zu verteidigen. Obwohl übel beschimpft, ließ er sich auch nicht ins Exil treiben, sondern behielt seinen jugoslawischen Pass, nachdem er in seinen späten Jahren doch meist in Paris lebte, wo er auch seine engsten literarischen Freunde hatte.

Kis_AusschnittWarum ist der Vater an- & die Mutter abwesend im Werk von Kiš?

Der Biograph Thompson richtet mehrfach seinen Fokus auf die Rolle, die der Vater des Schriftstellers in dessen Oeuvre spielt & erklärt die Abwesenheit der Mutter in Kiš´ Büchern mit der zu großen gelebten Nähe des Sohnes zu der zwei Jahre unter seinen Augen an Krebs gestorbenen Mutter. Diese einschneidende existenzielle Erfahrung habe Danilo eine literarische Beschäftigung mit der Mutter nicht erlaubt: weil Literatur für ihn ironisches Spiel mit dem faktischen Material betreibe. Der Vater, der zuletzt unter einer Angst-Psychose gelitten hatte, die ihn zu einem Alkoholiker gemacht hatte, war sehr früh aus dem Leben des Kindes gewissermaßen bloß „verschwunden“.

Es ist diese historisch-biographische „Leerstelle“, die Danilo Kiš mit den zwei Vater-Roman-Phantasmagorien „Garten, Asche“(1965) & „Sanduhr“ (1972) besetzte. Die 67 nummerierten Kapitel der „Sanduhr“ – ursprünglich von einem postum aufgefunden Brief des Vaters zu einem riesigem Prosa-Konvolut des Sohns provoziert –, sind das literarische Hochkonzentrat, das der Autor aus „zwei-bis dreitausend Seiten“ zu einem schlanken Erzählwerk von abgründig-vieldeutig-polyphoner Prosa verdichtet hat. „Wenn eine Erzählung“, erklärte Kiš seine ästhetisch kompromisslose Poetik, „die Gnade der Form erlangt, ist sie nicht länger Träger einer expliziten Idee oder Botschaft. Eine Erzählung ist keine Nachricht und überbringt keine Nachrichten, weder falsche noch wahre (eine Erzählung ist keine Zeitung): eine Erzählung ist eine mögliche Art, die Welt zu sehen und zu spüren“.

Eine frühe Reflexion von Danilo Kiš über Emigranten in Paris versteht sein englischer Biograph nicht als Beschreibung, in der Kiš die grundsätzliche existenziellen Tragik & Einsamkeit des Emigrantendaseins reflektiert, sondern missdeutet den Essay politisch als Kritik des Autors an den Exilierten.

Das scheint mir aber die einzige Interpretation Mark Thompsons zu sein, die problematisch ist. In den sieben sogenannten & durch dunkleres Papier vom biographischen Text abgesetzten „Zwischenspielen“ stützt der Brite sich bei der Darstellung & Interpretation von Danilo Kiš´ Hauptwerken vornehmlich auf die Kennerschaft angelsächsischer & französischer Autoren, die er ausführlich zitiert. Neben zahlreichen Fotos (u.a. des gerne Gitarre spielenden & in verschieden Sprachen singenden Schriftstellers) sind Sorgfalt & Liebe zu loben, mit denen der Verlag das umfangreiche, essayistisch so vielgestaltige Buch uns Lesern vor Augen gelegt hat.

Was kann man Besseres zu Mark Thompsons „Geburtsurkunde“ sagen, als dass man nach seiner Lektüre keinen Moment bedauert, den man in seiner Gesellschaft verbracht hat. Wenn man dann zur Wiederbegegnung mit Danilo Kišs Oeuvre & der „eiskalten Reinheit“ von dessen ironischer Prosa überwechselt, ist man dankbar für Thompsons höchst kundige, umfassend gelungen Evokation von Sein & Zeit des einzigartigen Danilo Kiš.

Wolfram Schütte

Mark Thompson: Geburtsurkunde. Die Geschichte von Danilo Kiš (Birth Certificate: The Story of Danilo Kiš, 2013). Aus dem Englischen von Brigitte Döbert & Blanka Stipetic. Zahlreiche Abbildungen. Carl Hanser Verlag, München 2015. 508 Seiten. 29,90 Euro. Foto: Wikimedia Commons, Quelle, Autor.

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