Ein paar tausend Bläschen
Gäbe es in Europa eine Champions League für Spannungsautoren: Der Schweizer Martin Suter spielte seit seinem Debüt Small World regelmäßig um die Meisterschale mit. Von STEFAN BEUSE
Versuchen Sie mal, einem Amerikaner den Unterschied zwischen E- (wie „ernster“) und U- (wie „unterhaltender“) Literatur zu erklären. Sie werden ein freundliches Lächeln ernten. Und auf massives Unverständnis stoßen: Anspruchsvolle Literatur, die sich zudem noch gut verkauft, ist dort wundersamerweise kein Widerspruch, während hierzulande kommerziellem Erfolg irgendwie immer noch der Ruch des (igitt!) Trivialen anhaftet.
Und jetzt die Gegenprobe: Empfehlen Sie einem befreundeten Literaturkenner mal einen Titel, der gerade zufällig auf den Bestsellerlisten steht. Der Blick, den Sie von Ihrem ehemaligen Freund ernten, dürfte irgendwo zwischen Verachtung und Ekel liegen.
Warum das so ist? Weil „der arme Poet“ immer noch aus Deutschland kommt? Weil Kunst und Erfolg zumindest in der Literaturrezeption immer noch als unvereinbar gelten? Oder warum ist „gut gemacht“ oft das höchste Lob, zu dem sich das „seriöse Feuilleton“ bei so genannter Genreliteratur durchringt?
„Das Genre soll die niedere Literatur gliedern.“ Auf Sätze wie diesen stößt man, will man es genau wissen.
Gute Beispiele für niedere Literatur sind demnach der erfolgreiche Abenteuerroman Moby Dick, die Schauergeschichte Das Bildnis des Dorian Grey, der Krimi Schuld und Sühne oder der „freche Frauen“-Roman Madame Bovary.
Hier Thriller, dort Literatur. Da Liebesgeschichte, dort Klassiker der Moderne. Das alles sind Label, die mittlerweile auf jedem zweiten Buch kleben: „Top-Titel des Monats.“ „Elke Heidenreich empfiehlt: Lesen!“ Die Beschriftungen werden nicht unbedingt origineller. Vor allem aber haben sie noch nie geholfen, gute Texte von schlechten zu unterscheiden.
Kunstmaler, Kunstturner, Kunstfurzer
In Martin Suters neuem Roman Der letzte Weynfeldt gibt es eine Figur, die sich selbst so vorstellt: „Rolf Strasser, Kunstmaler. Wie Kunstturner oder Kunstfurzer.“ Suter charakterisiert ihn wie folgt: „Er war ein virtuoser Maler, Beherrscher aller Techniken und Stile, perfekter Kopist alter Meister und verblüffender Fotorealist. Aber ein alter Professor hatte ihm in Wien mal gesagt: Strasser, Sie sind ein Könner – nur leider kein Künstler. (…) Der Stachel saß tief.“
Die Könner der Genreliteratur plotten spannend und schreiben anständig. Sie beherrschen ihr Handwerk: den Stoff, aus dem die Page Turner gemacht sind. Als Künstler gelten sie eher nicht, aber gäbe es in Europa eine Champions League für Spannungsautoren: Der Schweizer Martin Suter spielte seit seinem Debüt Small World regelmäßig um die Meisterschale mit.
Seine Romane, die beständig wie ein Schweizer Uhrwerk im Zweijahresrhythmus die Bestsellerlisten stürmen, handeln meist von erfolgreichen (Gut-)Menschen, die irgendwie aus der Bahn geraten, gern durch Frauen. Im jüngsten Beispiel heißt der erfolgreiche (gutmütige) Mensch Adrian Weynfeldt, ein großbürgerlicher Kunstexperte Mitte fünfzig, schwerreich, aber extrem großzügig und von Suter mit all seinen Ticks sehr sympathisch gezeichnet. Das perfekte Opfer also für Lorena – so heißt in diesem Fall der weibliche Stein des Anstoßes, in dessen Gefolge eine wahre Lawine an Verschwörungen, Betrügereien und Intrigen losbricht.
Umsorgt, verwöhnt, unterhalten
Der letzte Weynfeldt spielt in der Welt der Kunsthändler, Mäzene und Schmarotzer, der Günstlinge, Neider und Pseudokünstler, und Suter zeichnet diesmal das Milieu, in dem sich seine Figuren bewegen, so plastisch und überzeugend, dass sich der Leser vorkommt wie der Tischgast vor dem überzähligen Gedeck, das Weynfeldt nie abdecken lässt, „falls jemand mal einen Freund mitbringen möchte“.
Am Ende verlässt man die Tafel bestens umsorgt, nach allen Regeln der Kunst verwöhnt und unterhalten, und man verabschiedet sich nur ungern aus diesem Kreis. Zu sehr ist einem die Tischgemeinschaft ans Herz gewachsen; wie Lorena möchte man Weynfeldts Welt nicht mehr missen, jetzt, wo man einmal den guten Champagner gekostet hat, der sich dadurch auszeichnet, das „die Bläschen so winzig sind. Je kleiner die Bläschen, desto mehr davon haben Platz im Mund. Und beim Champagner geht es ja vor allem um die Bläschen.“
Der letzte Weynfeldt ist ein Fest für Genießer und nach zwei schwächeren Romanen endlich wieder ein Louis Roederer Cristal, der nicht nur sprachlich und dramaturgisch präzise gearbeitet ist, sondern vor allem psychologisch auf ganzer Linie überzeugt.
Die Abgründigkeit und Konsequenz seines besten Romans Die dunkle Seite des Mondes erreicht Der letzte Weynfeldt zwar nicht (dazu ist das Ganze am Ende doch etwas zu … ähm: lieb), aber wenn Suter so weitermacht, darf er sich irgendwann stolz neben eine Dame stellen, von der man in Buchhandlungen auch nie weiß, wo man sie findet: im Krimi- oder im Belletristik-Regal. Und trotzdem weiß jeder, dass sie nicht nur zu den Könnern, sondern vor allem zu den Künstlern gehört: Patricia Highsmith.
Wie sagt Weynfeldt so schön zu Lorena, bevor er ihr Champagner nachschenkt: „Noch ein paar tausend Bläschen?“ – Gerne, Herr Suter. Spätestens in zwei Jahren, bitte.
Stefan Beuse
Martin Suter: Der letzte Weynfeldt.
Diogenes Verlag 2008. 316 Seiten. 19,90 Euro.