Furios und fulminant
Endlich in neuer Roman des Kultautors Matt Ruff. In „Ich und die anderen“ wird durch eine simple Zweierkonstellation ein ganzer Kosmos skurriler Geschichten aufgerissen. Denn die beiden Hauptfiguren sind multiple Persönlichkeiten und man weiß nie, mit wem man es gerade zu tun hat.
Dass universitäre Abschlussarbeiten dröge Lektüre bieten, ist kein zwingendes Kriterium. Als ein junger Student Ende der Achtziger als Abschlussarbeit im Englischseminar einen Roman einreicht, hat dies gleich zwei weitreichende Konsequenzen: 1. Die maximale Länge solcher Arbeiten wird an der Universität von XXX fortan auf 80 Seiten festgeschrieben (die ausschlaggebende Arbeit umfasst beinahe das Zehnfache), 2. Die Welt ist um ein weiteres Kultbuch reicher. Der Name des Studenten lautete Matt Ruff und seine Uni-Arbeit sollte unter dem Titel „Fool on the Hill“ Scharen von Lesern und Kritikern begeistern. Die ebenso umwerfend komische wie gefühlvolle, die gleichermaßen rasante wie tiefgründige Story zählt auch zu meinen absoluten Herzensbüchern. Mit „G.A.S.“ legte Ruff sieben Jahre später einen würdigen Nachfolger vor, der bewies, dass Ruff sich auch im Genre der Science-Fiction (-Parodie) zuhause fühlt. Weitere sieben Jahre später nun der dritte Roman von Matt Ruff und diesmal zumindest auf den ersten Blick ein weitaus größerer Genrewechsel.
In „Ich und die anderen“ – was übrigens eine eher fragwürdige deutsche Titelgebung ist, denn im Original heißt der Roman „Set this house in order“ – erzählt Ruff im Großen und Ganzen die Geschichte zweier Menschen, zweier auf raffinierte Weise miteinander verknüpfter Schicksale. Wer nun befürchtet, auf die verschwenderischen skurrilen Charaktere der Ruffschen Phantasie verzichten zu müssen, dem sei versichert, dass diese Ängste unbegründet sind. Mittels eines psychologischen Kniffs bietet der Roman trotz begrenzter Protagonisten ein schier unüberschaubares Arsenal an Charakteren. Bei den beiden Hauptfiguren handelt es sich um multiple Persönlichkeiten.
Psychologischer Humor
Mit dieser Grundkonstellation betritt der Autor durchaus schwieriges Terrain: Psychische Störungen, hervorgerufen zumeist durch massiven Missbrauch in der Kindheit, sind ein ernst zu nehmendes Thema. Umso bewundernswerter, dass es Ruff gelingt, die Story eindringlich, überzeugend und dennoch mit einer großen Portion Humor zu erzählen:
Andrew Gage, über weite Strecken der Ich-Erzähler des Romans, wurde nicht geboren wie andere Menschen, sondern im Alter von 26 Jahren von seinem Vater „aus dem See gerufen“. Diese Geburt erfordert eine Erklärung, die sich im Roman nach und nach erschließt und in wenigen Zeilen nur unzureichend wiedergegeben werden kann. Andrew ist die zur Zeit beherrschende „Seele“ innerhalb seiner multiplen Person. Im Laufe einer Therapie wurden die widersprüchlichen Ich-Abspaltungen, die sich Andrews Körper teilen, dazu gebracht, ein imaginäres Haus zu bewohnen; eine strenge Hausordnung (und schon kommen wir dem Originaltitel auf die Spur) ist der Garant dafür, dass Andrew sich im wirklichen Leben behaupten kann, ohne im Alltag allzu sehr „aufzufallen“, dass er einen Beruf ausüben und Beziehungen pflegen kann.
Andrews „innere Welt“ ist es, die ihn in den Augen seiner Chefin Julie Sivik als geeignet erscheint, in ihrer „Reality Factory“ als Berater tätig zu sein. Julies Team befasst sich mit virtuellen Welten – hauptsächlich in Form von Computerspielen, jedoch auch mit weitergehenden Visionen.
Als Julie eine junge Programmiererin einstellt, droht Andrews filigranes Seelengefüge aus dem Gleichgewicht zu geraten. Denn Penny ist ebenfalls multipel – nur weiß sie hiervon nichts. Plötzliche Persönlichkeitswechsel, die mit Launen nicht mehr zu erklären sind und gravierende Gedächtnislücken prägen ihr Leben. Julie glaubt, dass Andrew Penny helfen könnte, doch allzu schnell läuft die Situation aus dem Ruder.
Ein Road-Movie gerät zur Gruppenreise
Ruff schickt die beiden auf eine Reise in Andrews Vergangenheit, lässt ein klassisches Road-Movie-Abenteuer ablaufen, doch aufgrund der besonderen Charaktere wird dies zu einer Gruppenreise. Wenn sich Penny von einem Moment auf den anderen von der kontaktscheuen Mouse in die nymphomane Loins, die lauthals fluchende Maledicta oder die gewalttätige Malefica verwandelt, können bereits groteske Situationen entstehen. Doch Andrew, dessen „Haus“ durch einen Schock arg ins Wanken geraten ist, verliert ebenfalls die alleinige Kontrolle über den Körper und muss ihn sich mit dem ängstlichen fünfjährigen Jake, dem pubertierenden Teenager Adam oder der kreativen Tante Sam teilen – vor allem lauert tief in seinem Innersten der bösartige Gideon, der nur darauf wartet, seiner Verdammnis zu entkommen. Und plötzlich steht die Frage im Raum, ob Andrew in seiner Vergangenheit einen Mord begangen haben könnte …
Wem diese grobe inhaltliche Darstellung zu wirr erscheint, dem sei versichert, dass Ruff seine Charaktere sehr sorgfältig entwickelt und die Fäden wie immer fest in der Hand hält. In aufreibenden Rückblicken deutet er an, welchen Qualen die beiden Protagonisten in ihrer Kindheit ausgesetzt waren, und was der Auslöser für ihre Flucht in andere Charaktere war. Ruff stützt seinen Roman auf die These, dass jede Misshandlung, jedes Trauma eine neue Ich-Abspaltung bewirkt. Psychologisch fundiert beschreibt er die therapeutischen Ansätze, ohne dass dies den Lesefluss störte. Vor allem aber bietet er seinem Leser wieder so manche Wendung, die diesen schwindlig zu machen droht. Furios und fulminant erfüllt Ruff die hochgesteckten Erwartungen, die seine bisherigen Romane geweckt haben, und bietet erneut Spannung und Witz, Gefühl und Raffinesse. Tausend Geschichten zwischen zwei Buchdeckeln …
Frank Schorneck
Zitat:
Nach dem Essen begleitete ich Julie nach Hause und blieb noch mehrere Stunden bei ihr. Es war die schönste, entspannteste Zeit, die ich seit über einem Jahr bei ihr verbrachte, und als ich endlich nach Hause ging, erfüllte mich ein beglückendes Gefühl von Zuversicht. Jetzt weiß ich, dass es naiv von mir war – dass mir, selbst wenn sonst nichts passiert wäre, immer noch genügend weitere Probleme mit Julie und Penny bevorstanden. Aber in dem Moment und für den Augenblick durchdrang mich eine selige, naive Gelassenheit.
Meine Gelassenheit hielt rund zwanzig Stunden vor, bis Sonntag Nachmittag, als ich Warren Lodge tötete.
Danach ging alles wieder schnell bergab.
Matt Ruff: Ich und die anderen. Deutsch von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser 2004. Gebunden. 597 Seiten. 24,90 Euro.