Das Böse ist immer und überall
– Matt Ruff ist wieder da – mit „Mirage“ – Lutz Göllner hat sich sehr auf das Buch gefreut, aber …
In den bisher 25 Jahren seines Wirkens als Schriftsteller hat Matt Ruff grade einmal fünf Romane veröffentlicht. Das zeugt nicht gerade von überschäumender Arbeitsfreude. Liest man allerdings auf seiner Webseite ( in der Rubrik „Odds & Ends“) wie viele Bücher er angefangen und abgebrochen hat, wird das Bild etwas anders. Vor sechs Jahren, nach seinem vorletzten Buch „Bad Monkeys“, erzählte er im Interview noch begeistert von einem Poker-Thriller, an dem er gerade schreibt. Ob der jemals erscheinen wird? Weiß der Geier! Aber jetzt erschien, mit fast zwei Jahren Verspätung, die deutsche Übersetzung seines neuesten Romans, „Mirage“.
Ein Fernsehproduzent überredete Ruff, den Pokerroman bei Seite zu legen und ein Konzept für eine TV-Serie zu machen. Eine Art arabisches „24“ sollte es werden, damals gab es in den USA eine große Diskussion über die „24“ und die Methoden, die Agent Jack Bauer zum „erforschen“ der Wahrheit benutzte. Auch diese Serie wird wohl nie das Licht eines Fernsehmonitors sehen, aber als Abfallprodukt setzte Ruff sich an diesen Roman – und zog ihn durch.
Spiegelwelt
Denn in der Spiegelwelt des Matt Ruff passiert alles anders herum. Es ist nicht der 11. September 2001, der das Angesicht der Welt veränderte, es ist der 9.11., an dem eine Gruppe christlicher Fundamentalisten Flugzeuge in die Hochhäuser der Handelsmetropole Bagdad steuert. Amerika ist ein unterentwickeltes Drittweltland, die Vereinigten Arabischen Staaten eine blühende Demokratie, die – zusammen mit dem verbündeten Israel – einen Gegenschlag starten und die Ostküste Amerikas erobern.
Doch auch acht Jahre später hat der „Krieg gegen den Terror“ keine Ergebnisse gebracht. Als Mustafa, Amal und Samir, drei Agenten der Homeland Security, einen weiteren Selbstmordattentäter stoppen, finden sie in seinem Besitz eine Zeitung aus unserer Welt. Die Ermittlungen führen das Trio zu Saddam Hussein, den stets gutgelaunten Boss der Unterwelt von Bagdad (die beste Figur des Buchs), der seit Jahren Artefakte aus der Parallelwelt sammelt. Und sie bekommen es mit dem zwielichtigen Senator Osama Bin Laden zu tun, dem Kontakte zum Terrornetzwerk Al Kaida nachgesagt werden.

© mHilliard/MHHM Seattle
Das Böse
Matt Ruffs Parallelwelt, in der seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts so einiges anders gelaufen ist, als auf unserer Erde, ist höchst amüsant und über weite Strecken perfekt durchdacht. In unregelmäßigen Abständen gewährt Ruff dem Leser einen Blick in „Die Bibliothek von Alexandria“, einer benutzereditierten, freien Enzyklopädie, die von einem gewissen Gaddafi erfunden wurde. Der Staat Israel etwa befindet sich auf dem Gebiet, das wir als Deutschland kennen, er hält seit dem Sechstagekrieg Teile von Bayern, Schwaben und das westlich Rheinland besetzt. Der britische Premierminister David Irving ruft regelmäßig zur Vernichtung des jüdischen Saates auf.
Bin Laden? Irving? Als Sohn eines christlichen Predigers glaubt Matt Ruff an das Böse und dass es sich in jeder möglichen Welt gleich manifestiert. Und über weite Strecken hält er dieser Welt einen Spiegel vor, in dem er erfolgreich Fragen nach Toleranz, Freiheit und Demokratie stellt. Doch die Konstruktion des Buches erinnert stark an P.K. Dicks „Orakel vom Berg“, einem klassischen „Was wäre wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten?“-Roman. Dass die Idee vom umgekehrten 9/11 nicht so superoriginell ist, bewies bereits im letzten Jahr der Israeli Lavi Tidhar mit seinem viel radikaleren „Osama“. Und leider hat Ruff es schon wieder nicht geschafft, einem Buch einen vernünftigen Abschluss zu geben. „Mirage“ ist 300 Seiten lang brillant und unterhaltsam, bricht dann aber unter der eigenen Last zusammen. Schade.
Lutz Göllner
Matt Ruff: Mirage. (The Mirage, 2012) Roman. Deutsch von Giovanni und Ditte Bandini. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2014. 490 Seiten. 21,90 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autor.