Radikal und provozierend
Kurz nach dem Erscheinen seines ersten Romans „Die Tochter“ hat Maxim Biller auf einem Autorentreffen in Tutzing dem deutschen Literatur- und Intellektuellenbetrieb eine schallende Ohrfeige verpasst und damit eine heftige Debatte ausgelöst. „Feige das Land, schlapp die Literatur“ betitelte er seine grandiose Schmährede wider die „fast schmerzhafte provinzielle Bedeutungslosigkeit“ und „vollkommene Morallosigkeit“ unserer gegenwärtigen Kultur.
Der scharfzüngige Kolumnist charakterisierte die Deutschen in seiner Rede als ein „Volk von selbstsüchtigen, neurotischen Feiglingen“ in einem „Kartenhaus aus Besitzstandswahrungslügen“. An die Stelle von utopischen oder moralischen Kategorien sei einzig und allein das eigene „Wohlfühlgefühl“ getreten – womit Maxim Biller auch zum Dilemma der heutigen Literatur kommt. Denn hier wimmele es von „Papierleichen“, „die nichts wollen, nichts hassen, nichts lieben“ und als die „schlimmsten, verschwiegensten aller Systemopportunisten“ stellt er „die klugen Anhänger des sogenannten Pop“ und ihren „Kurs der totalen Affirmation“ an den Pranger. Für den kritischen Aufklärer Biller bleibt dagegen die „moralische Vorstellungskraft“ die „Grundvoraussetzung eines jeden großen Schriftstellers“ und Kunst ist für ihn „der Roman von der Politik. Man muss ihn nur schreiben wollen. Man darf nicht vor ihm weglaufen. Man darf kein Schlappschwanz sein.“
Was liegt nun näher, als diese passgenaue Steilvorlage aufzunehmen und zu Billers Romandebut weiterzuleiten – und um es gleich vorwegzunehmen: „Die Tochter“ ist ein radikales und provozierendes Buch, das uns tief in die Abgründe einer grenzenlosen Liebe und Verzweiflung katapultiert. Und es ist auch ein eminent politisches Buch, das uns ein Deutschland um die Ohren schlägt, in dem eine eiszeitliche Kälte herrscht und hinter dessen gleichgültigen Fassaden ein latenter Antisemitismus und Faschismus schwelt. Es erscheint als ein „Totenland“, „wo gerade erst vor ein paar Jahren alles noch einmal so groß und grau und tot geworden ist“.
„Die Tochter“ beginnt mit einem Knalleffekt: Nach zehn Jahren sieht der in Deutschland lebende Israeli Motti Wind seine Tochter Nurit wieder – in einem jener Porno-Videos, die er sich Sonntag für Sonntag zu Gemüte führt. Auf der sich anschließenden alptraumhaften Odyssee durch das verschneite München setzt sich in vielschichtigen Rückblenden Stück für Stück von Mottis Leben zusammen. Dieses ist seit einem Einsatz im Libanon-Krieg unwiderruflich zerrissen und von einer ebenso schrecklichen Schuld wie Angst beherrscht, „die wie ein großer heißer Vogel in seinem Bauch umherflatterte und die ihn seit Jahren immer mehr aus seinem eigenen Leben forttrug“.
Mottis Schuld und Angst entlädt sich in einer wahnsinnigen – und wie nach vielen flüchtigen Andeutungen klar wird – inzestuösen Liebe zu seiner in einem merkwürdigen „Dämmerzustand“ aufwachsenden Tochter Nurit. Fast bis zum Widerwillen verstrickt Maxim Biller uns in Mottis schizophrenes und „fast endloses, ödes Ringen mit sich selbst“ in „sein ständiges Fallen und Steigen, Rutschen und Robben“. Mehr und mehr verwischen dabei sowohl für Motti wie für den Leser die Grenzen zwischen der Wirklichkeit und ausufernden Hirngespinsten.
Nach einem verblüffenden erzähltechnischen Kunstgriff führt Maxim Biller seine vexierbildhafte Geschichte nach über vierhundert Seiten schließlich zum Anfang zurück – und lässt den Leser mit einem brodelnden Wust von Fragen und widerstreitenden Gefühlen allein. In einer Zeit, in der es sich viele Verleger und Leser in einer poppigen Lifestyle-Literatur bequem gemacht haben, treibt Maxim Biller uns bedingungslos an die Grenzen des Erträglichen und sagt in seinem Essay auch gleich warum: wo Handlungen „niemanden schocken, mitreißen, aufwühlen, da fehlt eine metaphysische Hoffnung, das Leben möge vielleicht doch nicht ein einziger Fall in diesen beschissenen dunklen Abgrund unter uns sein.“
Karsten Herrmann
Maxim Biller: Die Tochter. Sondereinband – 423 Seiten – DTV, Erscheinungsdatum: 2001, ISBN: 3423129336