Geschrieben am 6. April 2006 von für Bücher, Litmag

Merle Hilbk: Sibirski Punk

Sibirischer Selbsterfahrungstrip

Die ehemalige ZEIT-Redakteurin Merle Hilbk hat in Sibirien die „russische Seele“ gesucht. Gefunden hat sie vor allem ihre eigene urdeutsche „protestantische“. Ihr erstes Buch „Sibirski Punk“ ist das schriftliche Zeugnis dieses Selbstfindungsprozesses.

„In Sibirien zu leben, ist eine einzige Freude: Von hier gibt es keine weitere Verbannung, das war’s, man ist angekommen, und daraus entsteht die Freiheit der Straflosigkeit, eine besondere, wilde Moral,“ resümierte Viktor Jerofejew 2001 in seinem Sibirien-Porträt für die ZEIT. Die Journalistin Merle Hilbk würde dem Moskauer Schriftstellers wohl nicht uneingeschränkt zustimmen können. Als sie im Sommer 2004 in Nowosibirsk landete, stellte sich ihr das Leben in Sibirien keineswegs so freundlich dar, wie sie es sich kurz zuvor in ihrer Hamburger Altbauwohnung noch erträumt hatte.

Schon bald entdeckt sie, dass die „fröhliche“ Melancholie der Russen ein seelischer Schutzschild gegen die sozialen und witterungsbedingten Härten des Alltags ist und den konsumbehüteten Westlern die „russische Seele“ wohl immer ein Rätsel bleiben wird. Bereits auf der Fahrt zu ihrem ersten Reiseziel, dem Atomforschungsinstitut „Akademgorodok“ stellt sie nach einem umherschweifenden Blick aus dem Autofenster desillusioniert fest: „Zwischen den welken Fassaden hat sich der Kapitalismus eingenistet wie ein Virus, der nach und nach die ganze Stadt infiziert, ihre Gestalt verändert und ihre Menschen.“

Ökobewegt und zivilisationsgeschädigt

Ein „Reflex aus den frühen Achtzigern“, wie sie kurz darauf bekennt und der auch ihre weiteren Reisebetrachtungen beherrscht. Denn von den ökobewegten und zivilisationskritischen Fesseln ihrer Jugendzeit kann sie sich auf ihrer abenteuerlichen Reise durch die unendlichen Weiten Russlands ebenso wenig befreien wie von ihrer romantisch-verbrämten Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit.

Durch die Brille einer erfolgreichen, aber entnervten und nach neuen Lebensimpulsen dürstenden Mittdreißigerin beobachtet und beschreibt sie die Lebensentwürfe der ihr am Ende doch so fremd gebliebenen Russen. Die Autorin trifft auf ihrem Weg von West- nach Ostsibirien auf dünn- und dickhäutige Akademiker, motorisierte Amazonen, baikalgraskiffende Punkrocker und weniger exotische Zeitgenossen. Sie unterhält sich auf Englisch, auf Russisch, auf Deutsch mit ihnen, leert mit ihnen „krepki napitki“ (Starkgetränke) in rauen Mengen und verbringt mit vielen von ihnen ganze Tage und Nächte. An eiskalten Seen, auf unkomfortablen Datschen, in stickigen Zugabteilen oder schummrigen Kneipen.

Story und Selbstfindung

All das nimmt die Vollblut-Journalistin um der Story und der Selbstfindung auf sich. Was ihr die traditionell gastfreundlichen Russen erzählen, gestisch oder mimisch andeuten, verdichtet sie zu ebenso anschaulichen wie spannenden Reportagen. In diesen Passagen ihres Buches wird die vielzitierte und von ihr dringend gesuchte „russische Seele“ spürbar, wenn auch nicht greifbar. Schließlich ist und bleibt sie ein intellektuelles Konstrukt. Das alkoholgeschwängerte In-den-Tag-Hineinleben oder der abgeklärt ausgefochtene Kampf mit den sibirischen Naturgewalten ist im Westen nicht unbekannt. Prominente Russlandkorrespondenten wie Klaus Bednarz oder Dirk Sager wissen auf vielen Buchseiten ähnliches zu berichten.

Neu ist die intime Nähe, die Hilbk zu ihren Gesprächspartnern und Gastgebern sucht und schonungslos offen zur Sprache bringt. Sie verlässt den Pfad der journalistischen Tugend und lässt ihren subjektiven Empfindungen und Enttäuschungen immer wieder freien Lauf, um sich des eigenen Seelenzustands zu vergewissern. Diese in poetischen und psychologischen Platitüden verkleidete Selbstfindungsprosa ist der sentimentale Kitt, mit dem die vielfach bereits andernorts und andersartig erschienenen Reportagen zusammengehalten werden.

Protestantische Schranken

Der anerzogene und antrainierte Protestantismus steckt der nicht nur äußerlich an Ingeborg Bachmann erinnernden Autorin wahrlich noch in den Knochen. Und zwar der Protestantismus in seiner pietistischen Spielart, die zur schonungslosen Seelenerkundung und kompromisslosen Leistungsethik gemahnt und nur schwer mit der „wilden Moral“ Sibiriens in Einklang zu bringen ist. Denn trotz aller Offenheit und Liebesmüh’ bleibt ihr Verhältnis zur russischen Mentalität und Alltagskultur ein seltsam gespaltenes. „Je mehr ich das Unbekannte, je mehr Rußland ich in mich aufnehme, desto bewußter wird mir das Deutsche an mir.“ Das ist die zentrale, wenn auch nicht sonderlich verwunderliche Erkenntnis, die sie und die Leser aus ihrer Selbsterkundungsreise nach Sibirien ziehen dürfen.

Jörg von Bilavsky

Merle Hilbk: Sibirski Punk. Eine Reise in das Herz des wilden Ostens. Gustav Kiepenheuer Verlag 2006. Gebunden. 255 Seiten. 17,90 Euro. ISBN 3-378-01081-9