Geschrieben am 13. August 2011 von für Bücher, Crimemag

Michael Connelly: Neun Drachen

Überzogene Erwartungen und eine überzogene Konstruktion

– Ein von Lesern und Kritikern gleichermaßen geschätzter Kriminalautor wie Michael Connelly schreibt manchmal auch einen eher sehr mittelmäßigen Roman – findet Claus Kerkhoff. Und der neue Harry-Bosch-Roman „Neun Drachen“ („Nine Dragons“, 2009) ist so einer.

Die Harry-Bosch-Romane des amerikanische Kriminalautors Michael Connelly gehören zum Feinsten, was die zeitgenössische Kriminalliteratur zu bieten hat. Sie wurden in der Vergan­genheit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, wie z. B. dem Edgar Award for Best First Novel und dem Grand Prix de la Littérature Policière International. Sie sind voller schmerzvoller Düsternis und Melancholie und zeichnen sich durch einen skeptischen Blick auf die Wirklichkeit aus. Der neue Harry-Bosch-Roman „Neun Drachen“, bereits der fünfzehnte Auftritt des unerschrockenen Haudegens, zeigt eine neue Facette des faszinierenden Charakters, die aber nicht richtig zu überzeugen vermag.

Seit fast zwanzig Jahren (mit einer kurzen Unterbrechung) arbeitet Hieronymus „Harry“ Bosch als Ermittler im Los Angeles Police Department. Er liebt seinen Beruf und er lebt für ihn. Seit vier Wochen hatte er keinen Mordfall zu bearbeiten; stattdessen musste er Schreibtischarbeit und Dienst nach Vorschrift machen. Doch Bosch kann sich auf seine Stadt verlassen. In Los Angeles vergeht kaum eine Woche mit weniger als einem Dutzend Morden. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, bis Bosch wieder in Aktion treten kann.

Mr. Li, chinesischer Besitzer eines Spirituosenladens, ist bei einem Überfall erschossen worden, drei Kugeln stecken in seiner Brust. Harry Bosch ist schnell überzeugt, dass Mr. Li nicht das Opfer eines gewöhnlichen Raubüberfalls wurde. Er vermutet stattdessen Schutzgeld­erpressung und die Triaden als Hintergrund für die Tat. Er nimmt die Ermittlungen auf und der Leser schaut ihm bei der zähen Spurensuche über die Schulter. Connelly beschreibt hier eine wenig aufregende Polizeiarbeit, die aber authentisch wirkt. Und er nimmt sich Zeit, seine Figuren zu charakterisieren und ihre Konstellationen zu beleuchten.

Michael Connelly

Das Private

Harry Bosch hat seinen Beruf immer als Berufung verstanden. Das ist seinem Privatleben nicht gut bekommen. Seine Ehe wurde geschieden und erst viele Jahre später hat er von der Existenz seiner Tochter erfahren. Seine Frau Eleanor hatte ihm damals vorenthalten, dass sie schwanger war, als sie sich trennten. Jetzt leben die beiden in Hongkong.

Seine unorthodoxen Methoden haben ihn bei den Kollegen und Vorgesetzten nicht beliebt gemacht. Bosch ist zudem unzufrieden mit seinem neuer Partner Ignacio Ferras und dem Detective der Asian Gang Unit, David Chu, der die beiden bei den Ermittlungsarbeiten unterstützen soll. Ferras macht, seit er vor einiger Zeit im Dienst angeschossen wurde, am liebsten Innendienst, und Chu ist Bosch aufgrund seiner chinesischen Abstammung suspekt. Bosch hatte im Vietnam-Krieg in einer Spezialeinheit als Tunnelratte gekämpft. Jetzt schämt Bosch sich für seine rassistischen Ressentiments, kann sie aber auch nicht unterdrücken.

Plötzlich bekommt das Buch eine neue Dynamik: Als Bosch und Chu ein Triaden-Mitglied festnehmen, wird wenig später in Hongkong Boschs 15-jährige Tochter Madeline entführt. Jetzt muss er mit allen Mitteln um ihr Leben kämpfen. Er fliegt nach Hongkong und wird zum Racheengel. Seine alten Reflexe als Tunnelratte sind wieder reaktiviert und ohne Furcht für das eigene Leben stürzt Bosch sich ins Getümmel. Die Ereignisse überschlagen sich und entgleiten seiner Kontrolle.

The Thrill is gone …

Mit dem Rückflug nach Los Angeles fällt die zuvor extrem vibrierende Spannung des Romans in sich zusammen. Fragen nach Plausibilität und Logik drängen sich auf. Bosch hat den Ort, an dem seine Tochter festgehalten wird, mittels eines unscharfen Handyfotos von einem Hochhaus im Moloch Hongkong identifiziert. Kann das? Er ist mit großer Pace durch Hongkong gestürmt und dabei fast ein Dutzend Leichen hinter sich zurückgelassen. Seine Ex-Frau wurde erschossen, doch Bosch zeigt nur einen winzigen Moment von Trauer. Zuvor hatte er sich noch eingestanden hatte, sie immer noch zu lieben. Er lässt Eleanor am Tatort zurück, um die Entführer seiner Tochter zu jagen.

Warum hat seine Ex-Frau ihn gewähren lassen? Warum war Eleanor so passiv? Immerhin war sie selbst einmal eine FBI-Agentin. Bosch, sonst so besonnen und professionell, agiert kopflos und überstürzt. Er zeigt sein Bargeld in der Öffentlichkeit, ohne daran zu denken, welche Begehrlichkeiten und Gefahren er damit heraufbeschwören könnte? Wie schnell können zwei gedungene Mörder von dem Geld erfahren und ihm und seiner Ex-Frau auflauern?

Im letzten Drittel des Romans erfährt der Mord an dem Spirituosenladenbesitzer noch eine überraschende Auflösung, doch das Finale wirkt seltsam beiläufig und hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. Frühere Bosch-Romane zeichneten sich durch einen präzisen und durchdachten Plot aus. Der Plot von „Neun Drachen“ hat scheunentorgroße Löcher. Interessant wird der Roman nur, wenn Connelly einen gut recherchierten Einblick in die Geschichte und Gegenwart der Triaden und die Spannungen zwischen den Ethnien in L.A. gewährt.

Enttäuschend ist, welche Bilder und welche Sprache Connelly für die Gefühle von Bosch und Madeleine nach der Ermordung Eleanors findet. Bosch hat grobe Fehler begangen und durch seine Berserkerhaftigkeit den Tod von Elaine mitverschuldet. Auch Madeline ist am Tod ihrer Mutter nicht unbeteiligt. Beide haben einen großen Verlust erlitten und sind jetzt in der Zukunft aufeinander angewiesen. Bosch muss jetzt lernen, Verantwortung für seine pubertierende Tochter zu übernehmen und zugleich sein berufliches Engagement zurück nehmen, um Zeit für seine Tochter zu finden. Doch Connellys Beschreibungen und Dialog  sind ungeschickt, oberflächlich, steif und formelhaft. Ihnen fehlt glaubwürdige Empathie.

Am Ende bleibt eine Ahnung, warum Connelly der Beziehung von Vater und Tochter neuen Raum in seiner Harry-Bosch-Serie gibt. Der unerschrockene Kämpfer für die Gerechtigkeit hat jetzt einen verwundebaren Punkt – auf die eine oder andere Weise. Die nachfolgenden Romane werden es zeigen.

Claus Kerkhoff

Michael Connelly: Neun Drachen (Nine Dragons, 2009) Roman. Deutsch von Sepp Leeb. München: Droemer-Knaur 2011. 476 Seiten. 9,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Zur Webseite von Connelly.