Geschrieben am 19. Juni 2010 von für Bücher, Crimemag

Michael Connelly: So wahr uns Gott helfe

Nichts als Lügen

Michael Connelly ist einer der erfolgreichsten Autoren der USA – gleichermaßen geschätzt von Lesern und Kritikern. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Edgar Award for Best First Novel und der Shamus Award for Best Novel. Jetzt ist sein neuster Roman So wahr uns Gott helfe in deutscher Übersetzung erschienen und CLAUS KERKHOFF ist beeindruckt.

Der erste Satz lautet: „Alle lügen. Polizisten lügen. Anwälte lügen. Zeugen lügen. Die Opfer lügen. Ein Prozess ist ein wahrer Lügenwettstreit.“ Damit steckt Michael Connelly den Rahmen seines neuen Romans ab und entwickelt aufgrund dieser Prämisse einen komplexen Plot, voller Wendungen und Überraschungen. Hinter jeder Ecke seiner Kriminalgeschichte tun sich neue Lügen auf: Eine Richterin protegiert einen rekonvaleszenten Anwalt, damit ein Prozess ohne Komplikationen stattfinden kann. Warum? Ein Polizist erschreckt ein potenzielles Attentatsopfer fast zu Tode – nur, um es für die weitere Zusammenarbeit aufgeschlossener zu machen. Ein Geschworener behauptet jemand anderer zu sein. Ein Angeklagter drängt auf einen raschen Prozessbeginn, weil er doch unschuldig sei, und geht doch auf Nummer sicher und kauft sich einen Geschworenen. Und einem Anwalt ist es egal, ob sein Mandant schuldig oder unschuldig ist. Er sucht die eine Lüge im Prozess, die „man packen und wie ein glühendes Eisen zu einer scharfen Klinge schmieden kann. Und mit dieser Klinge schlitzt man dann den Fall auf und lässt seine Innereien herausquellen.“

Dieser Anwalt ist Michael Haller. Nach einem Bauchschuss (nachzulesen im ersten Michael Haller-Roman Der Mandant) wurde Haller tablettenabhängig und hat zwei Jahre pausiert. Jetzt ist er zurück und übernimmt den Kundenstamm seines kaltblütig ermordeten Anwaltskollegen Jerry Vincent. Einer seiner neuen Klienten ist der Hollywood-Tycoon Walter Elliot. Er soll seine Frau und deren Liebhaber erschossen haben. Elliot beteuert seine Unschuld, und da der Prozess in wenigen Tagen eröffnet werden soll, bleibt Haller wenig Zeit, sich in die Prozessakten einzuarbeiten.

Nicht nur die Zeit, sondern auch der Detective Harry Bosch sitzen Haller im Nacken. Dieser ist mit den Ermittlungen zum Mord an Jerry Vincent beauftragt und glaubt, dass der Mörder unter Vincents Klienten zu finden ist. Als ein Unbekannter Haller auflauert, scheint sich Boschs Verdacht zu erhärten. Haller ist gezwungen, sich mit Bosch zu verbünden, um sein Leben zu retten.

Bosch & Haller

Michael Connelly arbeitete als Gerichtsreporter für verschiedene Zeitungen und als Kriminalreporter für die Los Angeles Times, bevor er Schriftsteller wurde. Das dabei erlernte Handwerk kommt dem heutigen Kriminalautor zugute. In seinen Romanen beleuchtet Connelly das amerikanische Rechtssystem von allen Seiten. Dazu hat er ein Figuren-Ensemble geschaffen, das in immer neuen Konstellationen im Mikrokosmos Los Angeles aufeinander trifft.

Mittels der Verbindung Bosch-Haller, die sich hier das erste Mal gegenüberstehen, überwindet Connelly auch die Beschränkungen eines klassischen Gerichtsthrillers, in dem der Handlungsraum im Wesentlichen auf den Gerichtssaal beschränkt ist. Dort stehen Verteidiger und Angeklagter der Staatsanwaltschaft gegenüber. In immerselben Disputen versuchen Ankläger und Verteidiger, die Geschworenen von der Schuld bzw. Unschuld des Angeklagten zu überzeugen. Spannung resultiert dabei aus der Frage, ob der Angeklagte wirklich unschuldig ist oder der Verteidiger einen Freispruch erwirken kann, weil er Zweifel bei den Geschworenen erzeugen kann – trotz eines Angeklagten, der offensichtlich und tatsächlich schuldig ist.

Durch die Verknüpfung von Detektivgeschichte und Gerichtsthriller gibt Connelly seiner Geschichte eine Dynamik, die das Statische des klassischen Gerichtsthrillers überwindet. Er entwickelt seinen komplexen Plot in kurzen Sätzen, sachlich und mit ruhiger Beiläufigkeit. Sein Stil ist lakonisch, das Erzähltempo langsam. Er nimmt sich Zeit, seine Geschichte und seine Protagonisten zu entwickeln. Connelly überzeugt mit detaillierten Recherchen, scharfen Milieuzeichnungen und einem fundierten Justizwissen, das er in die Geschichte einarbeitet, ohne ihr das Tempo zu rauben. Obwohl das Erzähltempo nur wenig variiert wird und auch Cliffhanger sehr dosiert eingesetzt werden, erzeugt Connelly eine unterschwellige, vibrierende Spannung, die die Aufmerksamkeit der Leser fesselt. Auch darin zeigt sich die große Klasse des Autors.

Recht & Gerechtigkeit

So wahr uns Gott helfe ist der zweite Roman um die Hauptfigur Michael Haller. Dieser Protagonist gibt Michael Connelly die Gelegenheit, die Seite der Verteidiger darzustellen. Trotzdem steht für Connelly nicht die Frage im Vordergrund, ob es moralisch ist, wenn ein Anwalt einen Schuldigen bestmöglich verteidigt und eventuell sogar einen Freispruch für einen Mörder erwirkt. Er glaubt nicht daran, dass in einem Prozess die Gerechtigkeit siegt. Es wird lediglich Recht gesprochen. Staatsanwalt und Verteidiger ringen darum, die Geschworenen mit allen Mitteln auf ihre Seite zu ziehen, deshalb wird gelogen.

Während der erste Haller-Roman Der Mandant noch darunter litt, dass Connelly sich die Anwaltsseite erst erarbeiten musste und viel Aufwand betrieb, die juristischen Hintergründe darzustellen, hat er sich jetzt freigeschwommen. Souverän treibt er seinen Plot voran und spielt gekonnt mit den Klischees um den Umgang zwischen Anwälten und Polizisten.

Die preisgekrönten Harry Bosch-Romane gehören zum Feinsten, was die zeitgenössische Kriminalliteratur zu bieten hat. Sie zeichnen sich durch einen unverstellten Blick auf den (auch korrupten) Polizeialltag und einen skeptischen Blick auf die Wirklichkeit aus. Passend dazu enthalten sie eine schmerzvolle Düsternis und Melancholie. Die Haller-Romane wirken dagegen leichter, was auch in der Ich-Perspektive des Protagonisten begründet ist. Aber ihr Blick auf den Gerichtsalltag ist ähnlich skeptisch und illusionslos.

Connelly spürt das Potenzial dieses gegensätzlichen Paares und lässt die beiden auch in zwei weiteren Romane (Nine Dragons und The Reversal) aufeinander treffen. Warten wir deshalb gespannt auf die deutschen Übersetzungen dieser beiden Romane.

Claus Kerkhoff

Michael Connelly: So wahr uns Gott helfe (The Brass Verdict, 2008). Roman.
Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb.

München: Heyne 2010. 511 Seiten. 19,95 Euro.

(Foto Peter von Felbert)

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