Geschrieben am 27. August 2014 von für Bücher, Litmag

Michael Kleeberg: Vaterjahre

Michael Kleeberg_VaterjahreCharly lernt konservative Tugenden zu leben

– Wolfram Schütte über Michael Kleebergs zweiten Epochen-Roman „Vaterjahre“.

Befremdlicher noch als sein rätselhafter Titel „Vaterjahre“ ist das Paar türkisfarbener Boxhandschuhe, die auf braunem Holzuntergrund des Schutzumschlags drapiert sind. Wer den zweiten Roman gelesen hat, den der Autor seinem Helden Karl Renn widmet, wird den Titel im Sinn von „Die Jahre als Vater“ verstehen. Aber das Bildsymbol der Boxhandschuhe, das allenfalls zum „sportiven“ Part des ersten Charly-Renn-Romans („Karlmann“) gepasst hätte – wenngleich es doch der Tennis ist, der dort eine symptomatische Rolle spielt –, wird ihm für „Vaterjahre“ vollends rätselhaft bleiben.

Denn weder faktisch noch symbolisch trifft es auf die sechs weitläufig ausgebreiteten Szenen aus dem Leben des 42jährigen Charly in „Vaterjahre“ zu – wenn man nicht die eher seinem psychologischen Raffinement & Instinkt geschuldete Karriere Karl Renns als ein „Durchboxen“ ansieht, das ihn mit vierzig Jahren zum Geschäftsführer der traditionsreichen Hamburgischen Kautschukhändler „Sieveking & Jessen“ im berühmten Chilehaus gemacht hat.

Nun lebt er mit seiner zweiten Frau Heike, einer Ärztin, und seinen zwei Kindern seit 1994 in einem eigenen Haus in Beimoorsee. In diesem idyllischen Vorort Hamburgs, in dem auch seine Schwester & sein zynischer Schwager & der lange beneidete & bewunderte Freund Kai mit seiner Frau sich angesiedelt haben, ist er „bereit zur gemeinsamen Brutpflege wie eine Meise, ein Schwan, ein Fuchs oder eine Präriewühlmaus“.

So ironisch jedenfalls charakterisiert der Erzähler Charlies derzeitige existentielle Situation. Kurzum: Charly Renn ist „angekommen“, wie der Erzähler einmal bemerkt; angekommen in der Hautevolee Hamburgs mit einer wohlsituierten, rundum glücklichen Familie. Der Mann ist „gesettelt“!

So angenehm das für Kleebergs „Jedermann“ auch sein mag, so prekär scheint es aber für einen Schriftsteller zu sein, weil ihm dadurch der „spannende“ Stoff ausgeht. Kleebergs wohl dreiteilig konzipiertes Charly-Projekt, orientiert an der eigenen Biographie, soll am Ende doch so etwas wie eine Folge von Dioramen sein, die vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis ins 21. Jahrhundert reichen & vornehmlich aus männlicher Sicht ein großes, vielgestaltiges deutsches Panorama evozieren.

Dafür spricht in „Vaterjahre“ z.B. ein (eher läppisch eingefädelter) Besichtigungsausflug Charlies mit seinem „Alten“ auf einem belgisches Schlachtfeld des 1. Weltkriegs; dass von der Flucht der westpreußischen Zivilbevölkerung vor der Roten Armee am Ende des 2. Weltkriegs berichtet wird & ein Kapitel sich mit den Lebensumständen von Heikes kommunistischen Eltern & Verwandten in der DDR beschäftigt; und schließlich, dass das literarisch virtuoseste Stück des ganzen Buchs hochdramatisch erzählt, wie Charly kaltblütig, noch während am 11.9. 2001 das World Trade Center in sich zusammenbricht, seine Firma durch eiligste Leerverkäufe via Internet vor der drohenden Verschuldung bewahrt & durch diesen genialen Coup seiner unternehmerischen Weitsichtigkeit „Sieveking & Jessen“ vor einer späteren Pleite bewahrt.

Literarische Buntscheckigkeit

Nicht alle dieser oft nur sehr lose mit dem zentralen Helden Charly verbundenen historischen Rückgriffe oder auch Lebensläufe sind von gleicher erzählerischer Dichte & literarischer Qualität wie die Zentralhandlung um Charly; was dem Buch aber nicht schadet, weil das zur literarischen Buntscheckigkeit des Romans beiträgt, die man mit strengem Schulmeistersblick seiner „Verwilderung“ ankreiden könnte, jedoch als genusssüchtiger Leser eher der ästhetischen Spielfreude des Autors zugute rechnen wird.

Denn es herrscht hier eine entspannte, epische Gelassenheit & (ja, sogar) Heiterkeit des literarischen Erfindens & Referierens, die Michael Kleeberg auf der Höhe seiner Möglichkeiten zeigen, seine Leser mit unterschiedlichsten literarischen Mitteln zu unterhalten & sie immer wieder zu überraschen.

Kleebergs „plasmatisches Erzählen“ kennt neben z.B. Inneren Monologen, Dialog-Passagen & Tagebuch-Briefen auch alle Stufen der Distanzierung: vom Humor über die Ironie bis zur Satire. Wenn der Autor z.B. auf einer Beerdigung die feine Hamburger Gesellschaft & das Auftreten einer bekannten „Fernsehpastorin“ mit satirischer Lust hochnimmt oder wenn er eine Vorstandssitzung a la Grandville ins Tierische übersetzt, wird ihm das so schnell keiner nachmachen können.

Fast demonstrativ (& polemisch gegen seine literarische deutschsprachige Kollegenschaft gerichtet) wählt Michael Kleeberg einen Protagonisten, der nichts (wie so oft bei uns) mit Literatur & Kunst zu tun hat & kein Intellektueller ist, sondern voll & ganz im kapitalistischen Geschäftsleben steht & an den „Trost der Dinge“ glaubt, den Luxus des Reichtums schätzt & an sein materielles Fortkommen denkt. Und wie schon in „Karlmann“ passt er seinen Helden in die überindividuellen Erkenntnismuster der Ethnologie, Verhaltens- oder der „Attraktionsforschung“ ein, wenn es zwischen Charly & Heike „funkt“.

Solche antiromantische Coolness kann sich bis ins Satirische steigern, wenn Kleeberg Charlies Überlegungen zu seinem Abschied von seiner früheren Promiskuität in Termini seiner Geschäftswelt formuliert, weil nämlich „die Güterabwägung zwischen erotischen Registereinträgen hier und schlechtem Gewissen da in einer Fortführung rein sexueller Beziehungen keinen darstellbaren return of investment mehr erwarten ließ“. Und eine aphoristisch formulierte phänomenale Erkenntnis, dass die heutige Generation junger Frauen die erste sei, bei der die Mütter wie die älteren Schwestern ihrer Töchter aussähen, gehört zu den vielen essayistischen Einsichten des Autors, die sein Roman als diskursiv-reflexiver Mehrwert den Lesern gewissermaßen nebenbei zuspielt – ein nicht zu unterschätzendes intellektuelles Vergnügen von Kleebergs Prosa.

Aber was gibt es zu erzählen, wenn Charly doch „alles erreicht hat“, was er sich vorgenommen hat & sich nichts existenziell Bedeutendes mehr in seinem Leben tut? Das fragt sich der Autor als Erzähler auf Seite 230, also noch nicht einmal nach der Hälfte des Buchs.

Pastiche, gleich mehrfach

Natürlich hat ein literarischer Professionell wie Michael Kleeberg nicht ernstlich Angst vor dem Problem. Im Gegenteil: der vierundfünfzigjährige Autor zeigt ersichtlich großes Vergnügen daran, sich seinen einst sexuell freibeuternden „Karlmann“ nun als monogamen Ehemann, Vater & Geschäftsführer vorzustellen. Mit seinem auktorialen Erzähler kann er sich literarisch auch alles erlauben, um Charlys Lebens-, Gesellschafts- & Berufswelt in unterschiedlichsten Beleuchtungen & aus verschiedenartigsten Blickwinkeln sowohl zu evozieren als auch zu reflektieren. Denn „Vaterjahre“ ist vielleicht noch mehr als „Karlmann“ ein „roman d‘essai“, bei dem das kommentierende Bedenken – manchmal des Erzählers, manchmal leider aber auch nur des Autors – dem evokativen Erzählen (wie ein roter Faden einer Textur) eingewoben ist.

Das Buch beginnt mit einem – wie ich mutmaße – dreifachen Pastiche: es ruft Assoziationen an Brodkeys „Unschuld“, Nabokovs „Lolita“ & Thomas Manns „Felix Krull“ herauf. Die entzückte Anrufung der Schönheit, die in seinem Bett vor Charlys Augen kommt & deren sprachliche Feier sogleich der Erzähler dem sprachlosen Charly in den Mund legt, gilt aber (wie man erst nach einiger Zeit erkennt): der sechsjährigen Tochter Luisa!

Es ist in jeder Hinsicht ein prekär-komplexes Beginnen für den Roman, der so schrill einsetzt: „Scheiße, wo hast du all die Schönheit hergenommen, du Lutschbonbon – du Liebesapfel!“

Prekär, weil der Liebende der Vater & die wortreich Angehimmelte seine kleine Tochter ist – ein scheinbar inzestuöses Verhältnis, das den Titel „Vaterjahre“ für dieses erste Kapitel rechtfertigt. Denn mit der Existenz von Kindern, so der Erzähler, verändert sich das Leben der Eltern von Grund auf.

Von allem Anfang an wird man aber auch als Lesender der „Vaterjahre“ in ein komplexes Beziehungsgeflecht versetzt und zwar sowohl im Hinblick auf das fiktive Geschehen als auch auf dessen literarische Erscheinungsform. „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben“, dichtete August von Platen. Und Charly, der da von der Schönheit seiner schlafenden Tochter zutiefst angerührt ist, wird an diesem Tag, dem NineEleven 2001, mehrfach dem Tod begegnen: nicht nur in den Bildern vom Massenmord-Attentat in New York oder einer Fotoausstellung zu dem verunglückten Rennfahrer Rindt im Chilehaus, sondern im eigenen Haus, wo er mit seinen Kindern über das finale Einschläfern des von allen geliebten krebskranken Retrievers Bella (!) sprechen & das Phänomen des Todes ihnen & sich erklären muss. Im letzten Kapitel, am Abend des berühmten Tages, wird der befreundete Tierarzt den Haushund töten – & als Luisa den Vater auf seinem Bett liegen sieht, wähnt sie in panischer Angst auch ihn schon tot, bis Heike das Kind wie sich selbst & uns Leser beruhigt, dass der vom ereignisreichen Tag völlig erschöpfte Vater sich nur zum tiefen Schlaf niedergelegt hatte.

Zwischen diesem A & O von „Vaterjahre“ hat Kleeberg mannigfach in Charlies Leben zurückgeblendet: zu Charlies groteskkomischen Schwächeanfall im Auto auf einer Elbbrücke, als er sich in die Hose geschissen hat & Heike ihn gewissermaßen aus seiner „tiefsten Erniedrigung“ errettet – bis zur Kindheit & Jugend seiner Eltern in Schwaben & Heikes Verwandtschaft in Neubrandenburg. Wobei die westdeutschen Nachkriegserinnerungen farbig-detaillierter sind als die lakonisch berichteten ostdeutschen (was wohl daran liegt, dass der Autor seine Böblinger Kindheit memoriert & für die SED-DDR-Welt sich aufs Hörensagen verlassen musste).

Der unaufhaltsame Untergang des glücklosen Jobst

Neben der sehr subtil-ironischen Darstellung von Charlies & Heikes Lieben & Leben ist wohl die ausführliche Darstellung des Schicksals von Jobst die eindrucksvollste narrative Passage des Romans. Der Freund, der die gemeinsame Schulkameradin Ines geheiratet hatte, wird durch einen frühen Schlaganfall seines Vaters zur Fortführung von dessen Geschäft gezwungen. Aber weil er kein Geschäftsmann wie Charly ist & Ines – von Jobst allein in Urlaub geschickt – einen Älteren dabei zufällig kennen & lieben lernt, wird sie den immer glückloseren Jobst verlassen, der zur gleichen Zeit in Pleite geht. Als Charlie & Kai während eines gemeinsamen Golfurlaubs die neu verheiratete Ines in einer Berliner Gated Community besuchen, taucht der zum heruntergekommenen Alkoholiker gewordene Jobst auf & wird mit einem Hunderter von ihnen forteskamotiert. Obwohl ihm seine geschiedene Frau (ein schlechtes Gewissen hat) noch einmal finanziell geholfen hatte, einen drohenden Gefängnisaufenthalt zu vermeiden, findet der vereinsamte & verwahrloste Jobst nicht mehr zurück in „geordnete Bahnen“ & bringt sich am Ende um.

Während diese “Nebenhandlung“ als eine menschliche Tragödie ebenso triftig wie Charlies berufliche & existenzielle Ups & Downs von Kleeberg erzählt & reflektiert wird, erscheint mir Charlies Motorrad-Urlaub in Italien – über den er in einer Folge von Briefen an einen Freund berichtet – so entbehrlich wie die Berliner Golferei peinlich, weil sie vornehmlich dazu dient, dem Leser zu demonstrieren, dass sich der Autor auch in der Fachsprache des Leisure-Class-Sports auskennt.

Auch irritiert einen gelegentlich die Kleebergsche Metaphorik – z.B. wenn „der Wüstenwind der Zeit die Leinwand der Erinnerung sandstrahlt“. Oder hier: „Schlägt die biologische Kuckucksuhr zwölfe und der hervorschnellende Piepmatz rät ihrem Besitzer, nunmehr von den diaphanen, unsteten Blondinen mit den schmalen Hüften und dem prekären Einkommen abzusehen und sich mehr an die Dunkelhaarigen zu halten, die auf festen Schnürschuhen stehend in ihrem Becken und Leben ruhen, die mit den Altstimmen, dem trockenen Humor, dem akademischen Abschluss und dem festen Gehalt“.

Das Buch hat also durchaus en détail einige Schwächen neben seinen hinreißenden erzählerischen Stärken & der bewundernswerten literarischen Intelligenz seines weit in alle möglichen Lebensbereiche ausgreifenden darstellungshungrigen Autors. Michael Kleebergs Souveränität offenbart sich jedoch am Schönsten darin, dass der Roman zwar ein brillantes Lesevergnügen bietet, aber gleichwohl von großer Trauer durchwirkt ist & bis in die Tiefen tödlicher Melancholie reicht.

„Um der Liebe willen dem Tod keine Herrschaft über die Gedanken einräumen“

„Mytten wir ym leben synd mit dem todt umfangen“: mit diesem Satz in Lutherdeutsch beginnt das letzte Kapitel, das von Zitaten der „Götterdämmerung“ durchzogen wird, während Charlies Blicke von einer Foto-Ausstellung im Parterre des Chilehauses angezogen werden, die der Erinnerung an den tödlich verunglückten Rennfahrer Jochen Rindt & seiner Hippiebraut gewidmet sind. Und wenn Charly erst insgeheim für sich einen Hymnus auf den jung Gestorbenen oder seine schöne junge Frau & einen höhnischen Abgesang auf das hässliche Alter(n) rund um ihn anstimmt, wächst in ihm jedoch bald darauf mit jeder Stufe, die er in dem historischen Haus zu seinem Arbeitsplatz hinaufschreitet, der Mut zu, der „sterbenssüchtigen Erotik“ des „gefährlichen Lebens“(Nietzsche) zu widerstehen. Am Ende einer Abbreviatur von Kontrasten sagt sich der innerlich gereifte Charly: Gegen die Anbetung des Endes setzte er das Ethos der Dauer. Gegen die Freiheit der Gesinnung setzt er die Pflicht zur Verantwortung. Und gegen die Ästhetik des Hedonismus setzt er die Ethik der Fürsorge.

Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass der Thomas-Mann-Kenner Michael Kleeberg sich hier seine Entsprechung zum „Schnee“- Kapitel des „Zauberbergs“ geschrieben hat.

Wolfram Schütte

Michael Kleeberg: Vaterjahre. Roman. DVA, München 2014. 499 Seiten. 24.99 Euro.

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