Symbolfigur des Hyper-Kapitalismus
Hvorecky zeichnet einen unsympathischen, gleichwohl spannenden Anti-Helden, der im Nachhinein, von der großen Krise aus betrachtet, sogar fast zu einer Symbolfigur der kurzen Zeit werden könnte, in der alle (Markt-) Gesetze ad absurdum geführt wurden. Von Ulrich Noller
So kann man den Zeitenwandel ertragen: Michal Kirchner, aufgewachsen im Ostblock, erwachsen geworden im ostwestlichen Dazwischen, jettet durch Luxussuiten und Designerbars, er genießt den Luxus der Schönen und Reichen, und er peitscht sich und andere dabei im wahrsten Sinne des Wortes von einem Höhepunkt zum nächsten: Kirchner ist der Superstar beim Begleitservice „Eskorta“, in Bratislava versüßt er reichen Managerinnen um die Vierzig, die in der Slowakei Geschäfte machen, das (Nacht-) Leben.
Ein paradiesischer Zustand, der für Michal ewig so währen könnte. Geht aber natürlich nicht, und irgendwann tun sich Risse in seiner Existenz auf, entsteht ein Zweifel, entspringt ein ungewohntes Gefühl, Liebe nämlich – und schon ist es vorbei mit dem schönen, neuen Luxusleben. Eine Seele, ein öffentlich geäußertes Selbst, ein Denken, gar ein Bruch, all das ist von dem ost-erotischen Dienstleister in Sachen Körperkultur nicht gefragt. Und ehe er sich´s versieht, gehört Kirchner nicht mehr zu denen drinnen, sondern zu denen draußen, die das schöne, neue, reiche Europa nur von weitem kennen. Was allerdings, zumindest aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet, langfristig unter Umständen sogar die bessere Perspektive sein könnte.
Zwischen schillernd und schäbig
Michal Hvorecky, geboren 1976, gilt als einer der spannendsten und interessantesten jüngeren Autoren der Slowakei bzw. des östlichen Mitteleuropas. Michal Kirchner, sein Held, ist eine grandiose Figur: Der androgyne Spross eines schwul-lesbischen Paares, das sich zu Ostblockzeiten zusammentat, um nicht von der Staatssicherheit verfolgt zu werden, verkörpert genau jene menschliche Mischung aus Zynismus und Unschuld, Eigensinn und Amoral, die in Zeiten des kochenden Kapitalismus zur Hochform aufläuft – und so eigentlich nur alles verlieren kann. Ein unsympathischer, gleichwohl spannender Anti-Held, der im Nachhinein, von der großen Krise aus betrachtet, sogar fast zu einer Symbolfigur der kurzen Zeit werden könnte, in der alle (Markt-) Gesetze ad absurdum geführt wurden – und marktliberale Regierungen plötzlich die politischen Ansätze umsetzen mussten, die sie eben noch als Sektierertum abgetan hatten.
Manchmal etwas statisch geplottet, aber gut und bildstark geschrieben, zeichnet Hvorecky in Eskorta (noch einmal) die schillernde Vision des zusammenwachsenden Europa, die in der Realität der Bankenkrise längst Vergangenheit ist: In der die Geldströme endlos fließen, in der die ewige Jugend und die ständige Lust zum Alltag geworden scheinen, in der das Alte, das Ostige, das Schäbige längst verbannt wirken. Allerdings wartet genau dieses andere Leben nicht weit entfernt, schon draußen vor den Toren der Stadt beginnt es. Und manchmal landet man, schneller als man denken sollte, mittendrin.
Ulrich Noller
Michal Hvorecky: Eskorta.
Klett Verlag 2009. 250 Seiten. 19,90 Euro.