Massaker & Family Issues …
Was schert uns die Aktualität! Ein Roman mit kaltem Blick auf eiskalte Realitäten ist immer willkommen, auch wenn man nach der Lektüre merkt, dass das Buch schon seit über einem Jahr auf dem Markt ist und in den falschen Stapel geraten ist. Friedemann Sprenger ist das passiert. Glücklicherweise.
In New York City gibt es ein Massaker an einem kalabresischen Familienclan. Auffällig, blutig, spektakulär. Medial kann man es nicht unter den Teppich kehren. Die New Yorker Polizei muss mit dem FBI kooperieren. Das FBI wird mit Hinweisen gefüttert, die die Ermittlungen in eine bestimmte Richtung lenken sollen. Dabei ist allen klar: Das Organisierte Verbrechen kennt keine nationalen Grenzen. Deswegen verschiebt sich ein wesentlicher Teil der Aufklärungsaktivitäten nach Italien, nach Rom und vor allem in die Berge Kalabriens, dem Stammland der `Ndrangheta, wie dort die lokale „Mafia“ heißt.
Mit eisiger Präzision erzählt der italienische Polizist und Romancier Michele Giuttari in „Blutsverwandt“ die Geschichte einer komplizierten, anscheinend effektiven, aber dennoch und beinahe hilflosen Verbrechensbekämpfung. Denn gegen die gewachsenen Familienbeziehungen in Süditalien, die aufs Engste mit kolumbianischen Kartellen, Gangs in New York, der Cosa Nostra, der sizilianischen Mafia und mit der italienischen Politik verknüpft sind, ist schwer anzukommen. Wobei selbst bei den Frauen der Clans die Solidarität zur Verbrecherfamilie notfalls mehr zählt als die zur biologischen Familie.
Giuttari fächert nüchtern und kühl, fast schon minimalistisch karg, eine solche Gemengelage auf. Die Ermittlungen seiner Polizisten (amerikanische und italienische) werden sabotiert, Verrat gehört zum Geschäft und wer am Ende wen verpfiffen hat, bleibt glücklicherweise unklar. Die Hauptfiguren des Romans zeichnet Giuttari eher als Funktionen denn als Personen. Er stattet sie knapp mit Privatleben aus, das grundsätzlich unter der Arbeit leidet, heroisiert sie genau so wenig wie er sie dämonisiert. Dadurch erreicht er einen Grad der Lakonie, der das ganze Aufregungspotenzial, das dem Thema „Mafia“ spätestens seit Roberto Savianos anhaftet, wohltuend herunterkühlt.
Miese alte Männer
Verharmlost wird durch dieses Verfahren nichts. Schon fast gespenstisch, wie genau Giuttari erzählt, wie und warum alte, bescheiden gekleidete und anscheinend ärmliche lebende Männer in nach Bergamotte riechenden abgelegenen Gebirgslandschaften die Macht und den Einfluss haben, mit Hightech ausgerüstete Organisationen (Verbrecher und Verbrechensbekämpfer gleichermaßen) in East-Brooklyn und Manhattan nach ihrem Willen tanzen zu lassen. Und wenn eine solche atavistische Struktur geknackt ist, wer wird dann den Mut haben, gegen sie auszusagen? Zumal man sich auch auf die Integrität der juristischen Institutionen nicht verlassen kann.
Das sind nur ein paar Implikationen des Romans. Sie bilden den beunruhigenden und verstörenden Subtext, auch wenn das Buch am Ende so tut, als ob „der Fall“ des Massakers in NYC geklärt, die Mitspieler identifiziert, ein paar Strukturen zerschlagen wären. Das ist zwar richtig, aber Giuttaris Erzählen macht deutlich, dass sich das Wasser, nachdem ein Stein kurz Kreise bildete, schon längst wieder beruhigt hat – tief und schwarz.
Friedemann Sprenger
Michele Giuttari: Blutsverwandt (La donna della `Ndrangheta, 2009). Roman. Deutsch von Karin Diemerling. Köln: Ehrenwirth/Lübbe 2010. 383 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.