Rund um die Erde
Ein Sonderheft der Zeitschrift „Le Monde diplomatique“ widmet sich der weltweiten Migration. Von Carl Wilhelm Macke
Im Hintergrund sieht man auf dem Photo drei wohlgenährte Urlauber sich in der Sonne räkeln, im Vordergrund kriecht ein barfüßiger Mann schwarzer Hautfarbe über den Strand.
Ein vielleicht zu plakatives Motiv, aber weit von der Realität entfernt ist es nicht. Man kann es auch ohne schockierende Bilder in nüchternen Zahlen ausdrücken: Von 1988 bis 2008 sind 8.109 Migranten im Mittelmeer sowie im Atlantischen Ozean auf dem Weg nach Spanien ertrunken. Mehr als ein Drittel aller Leichname wurde nie geborgen. Und um ein anderes, brennend aktuelles Beispiel zu nennen: Aufgrund des Konflikts im Osten der Demokratischen Republik Kongo sind mehr als 1,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Wie es im Irak, in Pakistan, in Somalia, Zimbabwe aussieht, mag man sich gar nicht vorstellen.
Aber weder Bilder noch exakte Zahlen können die tatsächlichen Dimensionen massenhafter Migrationen rund um den Globus wiedergeben. Wäre unser soziales Gesellschaftsgefüge nicht längst zusammengekracht ohne billige, teils auch illegal beschäftigte Pflegekräfte aus Osteuropa? Oder man schaue sich einmal wie jüngst die Münchner Polizei in den Luxusherbergen der Republik um. Vorne in den Suiten schlürft man Champagner, hinten werden die Toiletten von Schwarzarbeitern aus dem Kosovo gereinigt. Alles billige Klassenkampfpolemik aus längst vergangenen Zeiten?
Hier eine aktuelle Lektüreempfehlung: Ein von der Monatszeitschrift „Le Monde diplomatique“ herausgegebenes Sonderheft beschäftigt sich ausschließlich mit allen Facetten der Migration im Zeitalter der Globalisierung. Mit den Fluchtbewegungen innerhalb von Afrika und aus Afrika heraus genauso wie etwa mit dem neuen Phänomen der „Migrationswaisen“ in Rumänien. „Kinder, die ohne ihre Eltern aufwachsen, weil diese im Ausland arbeiten – das ist überall im Land Alltag.“ Der „Feminisierung der Migration“ ist ein langer Report gewidmet. 1990 waren 47 von 100 Migranten Frauen, zehn Jahre später waren es mehr als 50 Prozent.
Beklemmend die Reportage von Jury Andruchowytsch über seine Busfahrt von Liew nach München inmitten seiner ukrainischen Landsleute, die sich von einem anderen Leben nichts anderes als die „Woolworth-Kultur“ erträumen. „Niemand hat das Recht, anderen die Suche nach einem besseren Leben zu verbieten, auch nicht ein Schriftsteller“.
Besser kann man die ganze Dramatik und Problematik heutiger Migration nicht in Worte fassen. Welche Konsequenzen diese massenhafte Entwurzelung von Menschen für unser soziales Zusammenleben noch haben wird, „wissen wir nicht.“ (Eric Hobsbawm)
Wir ahnen es nur nach der Lektüre dieses Heftes. Aber wir blicken hier auch in einen Spiegel, wenn zum Beispiel eine junge Krankenschwester aus Sierra Leone mit ihren Eindrücken aus Deutschland zitiert wird: „Die alten Leute, die ich hier in meinem Beruf sehe, tun mir sehr leid. Viele sind allein und einsam. In Afrika ist immer die ganze Familie da.“ Dieses ausgezeichnete Heft von „Le Monde diplomtique“ hilft, die ganze Dramatik weltweiter Migration wahrzunehmen, seine Ursachen zu verstehen, aber die „Transnationalisierung von Lebenswelten“ (Ludger Pries) auch als Gewinn des Zusammenlebens vieler Kulturen zu interpretieren. Keine Idealisierung, aber auch keine Dämonisierung, nur eine nüchterne und informationsreiche Bestandsaufnahme eines globalen Phänomens, das das 21. Jahrhundert tief prägen wird.
Carl Wilhelm Macke
Edition Le Monde diplomatique: Immer der Arbeit nach. 111 Seiten. 8,50 EUR.