Geschrieben am 11. September 2013 von für Bücher, Musikmag

Mohr Music: Mohr Books

Christina Mohr hat gelesen: Journalistische Texte zu Popkultur und Feminismus von Tine Plesch, Lyrics von Jarvis Cocker und eine Reportage von Alexander Dluzak über Punk und Politik in Myanmar.

pleschSpitze Feder

Als im Dezember 2005 das erste Nürnberger Ladyfest stattfand, war die wichtigste Initiatorin bereits seit über einem Jahr tot: Bettina „Tine“ Plesch starb am 4. November 2004 im Alter von 45 Jahren an den Folgen eines septischen Schocks, ausgelöst durch eine Blutvergiftung. Ein völlig unerwarteter Tod, der FreundInnen und KollegInnen erschütterte und in den deutschen Popjournalismus eine riesige Lücke riss.

Dr. Tine Plesch war leidenschaftlicher Popfan und engagierte Feministin – ihr Schaffen als Journalistin, Autorin und Radiomoderatorin war diesem Dualismus gewidmet, verkürzt kann man sagen: ihr ganzes Leben. Geboren in eine bayrische Apothekerfamilie lernte sie als Kind klassisches Klavier und begeisterte sich früh für Popmusik aller Couleur; schon in den frühen 1980er-Jahren moderierte sie eigene Sendungen beim Freien Radio. Als Studentin begann sie ihren „Brotjob“ (Aushilfe in der Apotheke des Bruders), verfasste ihre Doktorarbeit über wahnsinnige Frauenfiguren im englischsprachigen Roman, nebenher (dieser Begriff ist in diesem Zusammenhang maximal unpassend) begann sie journalistisch zu schreiben.

Vorwiegend über ihre Herzensangelegenheit: Genderverhältnisse in Pop und Rock, die sie mit scharfem Blick und spitzer Feder analysierte, kommentierte, in Frage stellte – klug und klar, nie verletzend oder polemisch. Sie schrieb über queere CountrymusikerInnen, deutsche Hip-Hopper, Janis Joplin, Riot Grrrlsm, Annie Sprinkle und über immer wieder über Krimis, was ihr den Spitznamen „Queen of Crime“ einbrachte. Ihre Texte erschienen in Intro, testcard und vielen anderen Publikationen, bildeten einen kritischen Gegenpol zum affirmativen Gutfinde-Stil vieler Schreiber – bei diesem Wort bleibt die rein männlichen Form, denn Tine Plesch war eine der wenigen engagierten MusikjournalistInnen, die viele andere beeinflusste – leider noch nicht genügend viele, muss an dieser Stelle eingefügt werden.

Tine knüpfte Netzwerke, war verbindlich und authentisch, weshalb viele der von ihr interviewten MusikerInnen über die Artikelveröffentlichung hinaus mit ihr verbunden blieben. Es war und ist ein unsagbarer Jammer, dass Tine Plesch so früh aus Leben und Arbeit gerissen wurde – so vieles war noch ungesagt und ungeschrieben. Wie gerne hätte man von ihr etwas über Lady Gaga gelesen/gehört oder über Miley Cyrus (wobei sie in diesem Fall vielleicht höflicherweise geschwiegen hätte), über Neo-Soul-Sängerinnen und Casting-Shows – als Trost und Inspiration erscheint nun im Ventil Verlag der Reader „Rebel Girl“ mit Tine Pleschs wichtigsten Texten. Ein Must-Read, ganz klar.

Tine Plesch: Rebel Girl. Popkultur und Feminismus. Ventil Verlag, 2013. Broschur. Ediert von Evi Herzing, Hans Plesch und Jonas Engelmann. Mit einem Vorwort von Michaela Melián. 240 Seiten. 14,90 Euro.

cockerKeine Textblockade

Fast 400 Seiten dick, gebunden in seriöses Braun, ausgestattet mit Lesebändchen und ausführlichen Anhang kommt „Mother, Brother, Lover“ daher: die gesammelten Songtexte von Jarvis Cocker aus 25 Jahren, mit Pulp und solo. Und selbst wenn man eine Sekunde lang den ketzerische Gedanken hegt, wer denn bitteschön so ein dickes Buch nur mit Songtexten lesen will, wird nach ein, zwei Cocker-Lyrics bekehrt sein.

Zu Recht gilt Jarvis Cocker als „national treasure“, seine 1978 (!) gegründete Band Pulp bildete mit Überraschungshits „Common People“ und „Disco 2000“ 1995 den verschroben-queeren-notwendigen, tja, Gegenpol zu den Britpop-Lad-Bands Oasis und Blur, an deren affigen Showkämpfen sich Pulp nicht beteiligten. Sie passten sowieso nicht dazu, schließlich war mit Keyboarderin Candida Doyle eine Frau (!!) in der Band und außerdem hieß ihr Frontman Jarvis Cocker, der ironisch-selbstbewusst seine Hühnerbrust ausstellte und seltsam „unmännlich“ tanzte.

Cockers Texte waren und sind übrigens auffallend oft aus weiblicher Perspektive geschrieben (nicht nur über Frauen), eines der vielen Details, die sich in „Mother, Brother, Lover“ nachlesen lassen. Cocker (Jarvis) beschreibt im Vorwort des Buches seine Rolle als Texter so: „Wer sich jemals in ein Aufnahmestudio verirrt, in dem nichts mehr geht, dann liegt das nicht etwa daran, dass der Drummer unter einer Drummer-Blockade leidet oder der Gitarrist unter einer Gitarristen-Blockade, nein, es ist immer der Texter, der blockiert ist.

Viele der Texte in diesem Buch wurden hastig am Abend vor einer Aufnahmesession geschrieben, weil ich nicht anders konnte, als es bis zur allerletzten Minute aufzuschieben.“ Angesichts böser, kluger, frappierender, Widersprüche entlarvender Texten wie „His’n’Hers“, „Deep Fried In Kelvin“ oder „Sheffield: Sex City“ erscheint Cockers Bekenntnis umso erstaunlicher, wenn nicht gar unglaubhaft, aber wahrscheinlich ist es die Wahrheit. Jarvis Cocker/Pulp entsprachen zu keiner Zeit irgendeinem Klischee, noch nicht mal dem, keinem Klischee zu entsprechen.

Pulp veröffentlichten nach ihrem erfolgreichen Höhenflug die sperrigsten Alben ihrer Laufbahn („This Is Hardcore“, „We Love Life“) und begaben sich danach in eine noch nicht beendete Schaffenspause; Jarvis Cocker ließ sich einen Vollbart stehen und ist auch als Soloartist so verwirrend sexy wie eh und je. Dass Jarvis Cocker wie Joe Cocker aus der Arbeiterstadt Sheffield stammt, ist von nicht unwesentlicher Bedeutung für das Schaffen beider Cockers – auch wenn sich die Ergebnisse bekanntermaßen deutlich unterscheiden. „Mother, Brother, Lover“ ist die längst fällige Würdigung eines der wichtigsten Texter der jüngeren Popgeschichte und gehört in die Bibliothek jedes/r mündigen Fans.

Jarvis Cocker: Mother, Brother, Lover. Lyrics/Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Englischen von Michael Kerkmann. Berlin Verlag, 2013. 340 Seiten. 19,99 Euro.

yangonJugendliche Punkfans in Myanmar

Im Frühjahr lief auf ZDF Kultur die Dokumentation „Yangon Calling“ – dem und der einen oder anderen wird Yangon (Rangun) als Stadt im südostasiatischen Inselstaat Myanmar ein Begriff sein. Weniger bekannt dürfte sein, dass es in Yangon eine höchst aktive, wenn auch stets in Angst vor Verfolgung und Restriktionen lebende Punkszene gibt.

Trotz aller politischen Umwälzungen und Demokratisierungsprozesse der letzten Jahre und dem Bestreben, Myanmar als touristischen Hotspot zu etablieren (Alice Schwarzers Lieblingsurlaubsland by the way) lässt sich kaum wegdiskutieren, dass das Land in weiten Teilen noch immer eine Militärdiktatur ist. Wie sich in diesem Umfeld jugendliche Punkfans finden und dann auch noch trauen, eigene Bands zu gründen, aufzutreten, Platten aufzunehmen, ist ein gefährlicher Kraftakt, entfernt vergleichbar mit Punk in der DDR/dem Ostblock.

Die Filmemacher Alexander Dluzak und Carsten Piefke reisten ohne Dreherlaubnis nach Myanmar, um dieses Phänomen, auf das sie durch ein youtube-Video aufmerksam wurden, zu beleuchten. Eine der Erkenntnisse der unbedingt empfehlenswerten Dokumentation: ohne das Internet wäre Punk in Myanmar/Yangon kaum möglich, viele ProtagonistInnen der Szene sind bei Facebook und Youtube und finden sich über diese Kanäle, tauschen sich aus, betreiben Vergangenheitsrecherche (= Bands „von früher“ hören und sehen) und suchen konspirativ nach geheimen Auftrittsorten.

Wie Punk überhaupt nach Myanmar kam, wie die wichtigsten aktuellen Bands heißen und wie sie klingen, erklärt „Yangon Calling“ (Sprecher des Films ist übrigens kein Geringerer als Bela B.), das begleitende Buch liefert vertiefende Texte und viele Fotos.

Alexander Dluzak (Hrsg.): Yangon Calling. Musik, Subkultur und Politik in Myanmar. Lieblingsbuch Verlag/Fly Fast Publishing, 2013. Gebunden. 240 Seiten + DVD. 24,90 Euro.

Christina Mohr

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