Wundertüte
Nicholson Bakers einzigartige meditative Essays „So geht´s“. Von Wolfram Schütte
Es würde wohl kaum einer der literarischen Kenner & Liebhaber widersprechen, wenn man den US-Schriftsteller Nicholson Baker zu dem originellsten Kopf der gegenwärtigen US-Literatur erklärte. Obwohl der noch nicht ganz Sechzigjährige mit dem weißen Vollbart (mit dem er die Fußsohle seines Sohnes kitzelt) ein lupenreiner Quäker aus dem amerikanischen Nordosten ist, wo der studierte Fagottist heute in einer Kleinstadt des Bundesstaates Maine lebt, ist seine literarische & intellektuelle Leidenschaft derart eigenartig, dass man wegen ihrer exzentrischen literarischen Ausschläge, seiner vielseitigen Bildung, bzw. Interessen & wegen seines Humors sie eher einem lateinamerikanischen, katholischen Schriftsteller zuschreiben möchte, etwa einem Julio Cortázar redevivus.
Denn Baker hat bislang acht (experimentelle) Romane veröffentlicht – worunter drei sind, die aus ihrer pornographischen Stofflichkeit keinen Hehl machen – & seine beiden Sachbücher „Menschenrauch“ oder „wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete“ & „Der Eckenknick“ oder „wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigten“, lösten entweder Kontroversen aus oder skandalisierten eine verschwiegene öffentliche Entwicklung. Ihre Themen waren so weit von einander entfernt wie jetzt die der knapp mehr als zweieinhalb Dutzend Essays & Betrachtungen, die der Autor in den letzten 4 Jahrzehnten für Zeitschriften verfasst hat. Er hat sie nach den dominanten Themen, um die sie kreisen, geordnet: Leben, Lesen, Bibliotheken & Zeitungen, Technik, Krieg. Das verbindet alle diese kleinen Arbeiten mit Bakers größeren.
Etwa unter „Krieg“ hat er sich noch einmal ausführlich mit jenen US-Pazifisten der Dreißiger/Vierziger Jahren beschäftigt, denen er seine Kompilation von zeitgenössischen Zeitungsmeldungen vor & während des 2. Weltkriegs („Menschenrauch“) provozierend gewidmet hatte. Das Ziel jener US-Pazifisten, um jeden Preis vornehmlich die bedrohten europäischen Juden zu retten & den (allen westlichen Politikern hinlänglich bekannten) Holocaust der Nazis auf alle Fälle zu verhindern, erscheint dem Nachgeborenen (so absurd es einem erst recht heute auch erscheinen mag) immer noch ehren- & erinnernswert, weil er zu wissen glaubt, dass „alles manchmal ganz einfach aussieht“ – wie er in seinem essayistischen „Glaubensbekenntnis“ am Ende seiner Sammlung bekennt.
In diesem metaphorischen „Denkbild“ (um Bakers „Mähen“ in Walter Benjamins Nähe zu holen) heißt es: „Manchmal (…) möchte ich ein kurzes Buch mit dem Titel >So geht´s< schreiben. Es soll ein Buch für Kinder und Erwachsene werden, das alles erklärt, Geschichte, Schönheit, Bosheit, Erfindung, den Sinn des Lebens. (…) Dieser Ehrgeiz packt mich am stärksten, wenn ich wie jetzt (beim Rasenmähen) das Gefühl habe, dass alles einfach ist. Ich weiß, eigentlich ist es gar nicht einfach, und ich weiß auch, dass ich das Buch nie schreiben werde und trotzdem spüre ich, dass ich kurz davor bin, die Regeln, Gesetze, die Taschenspielertricks, die jedes menschliche Tun bestimmen, zu verstehen. Ich weiß, warum die Menschen wütend sind, warum sie lachen, warum sie andere Menschen verklagen, warum sie bestimmte Hüte tragen, warum sie dick werden, warum sie sagen, was sie sagen – oder ich weiß es beinahe. Noch eine halbe Stunde stirnfurchend sorgfältiges Nachdenken, dann habe ich es heraus. Warum bin ich der Glückliche, der das alles beinahe weiß? Weil ich ein paar vergessene Gebiete geduldig erforscht habe. Ich habe die Bestellzettel ausgefüllt und die säurefreien Kartons mit den Archivmappen bestellt. Ich habe mehrere isolierte Rasenstücke der Geschichte gemeistert, und ich weiß auch ein wenig über meine eigene gelebte Welt, und mit diesen diversen Pflöcken zur Abstützung kann ich mein moralisches Zelt aufstellen.“
Das Werk ist mehr als das Oeuvre
Dieser unerfüllten, ja per se immer unerfüllbar bleibenden metaphysischen Utopie, alles über alles zu wissen, indem er durch geduldige Hingabe an das Seiende & vor allem die Dinge „das Lied“ zum Erklingen bringt, das nach Eichendorffs Worten „schläft in allen Dingen“: – dieser von Phantasie & Erkenntniswillen getriebene Impetus bringt das so vielgestaltige wie umfangreiche Oeuvre Nicholson Bakers hervor. Sein „Werk“ sind aber nicht nur z.B. Betrachtungen über die venezianische Gondel, in der er als Hochzeiter durch die engen Kanäle kunstvoll geschippert wurde, im Vergleich zum brutalen Vaporetto; oder sein liebevolles, bewunderndes Porträt David Remnicks, des langjährigen Chefredakteurs des „New Yorkers“. Sein Werk sind aber ebenso die Überarbeitung von Artikeln in Wikipedia oder die Restitution von Artikeln, die andere der Furie des Verschwindens ausgeliefert hatten.
Aber am Ausgreifendsten hat der Sammler & Jäger der verloren gehenden Schätze des Printzeitungsalters zugepackt. Um Zeitungsarchive wenigsten teilweise zu retten – zum Beispiel als Zeugnisse der Kreativität des heute nur noch als Namensgeber des höchsten US-Preises für hervorragenden Journalismus & Literatur, bekannten Joseph Pulitzer – hat Nicholson Baker einmal seine gesamte familiäre Altersversorgung von 150.000 $ aufs Spiel gesetzt, um 7000 Zeitungs-Bände aus dem 19.Jahrhundert vor der Vernichtung zu retten & gegen Bibliotheken hat er prozessiert, weil sie Bücher schlampig digitalisiert & dann die Originale weggeworfen haben. Auch hat er berechnet, was die Digitalisierung, mit der „Platz gewonnen wird“, an Strom zum Unterhalt kostet & wie vergleichsweise billig doch die klassische Bibliothek wäre.
Wenn ich´s nicht schon anlässlich seines kleinen Romans „Eine Schachtel Streichhölzer“ gemutmaßt hätte, so hätte mich sein Essay „Eng liniert“, in dem er ausführlich über seine Leidenschaft spricht, Sätze & Passagen, die ihm in gelesenen Büchern gefallen haben, handschriftlich abzuschreiben & in Notizbüchern sammelnd aufzubewahren, geradezu darauf hingestoßen: In Nicholson Baker ist eine geistige & poetische Existenz inkarniert, die aufs Engste & Verblüffendste mit unserem Jean Paul verwandt scheint!
Hier wie da ist die gleiche Liebe zu den Dingen, zu „merkwürdigen Wörtern“ oder zum Minimalsten vorhanden & die glückliche Lust am Archivieren oder dem in Wort & Schrift Verwandeln alles Gelebten, Getanen & Gelesenen. Zugleich aber nicht nur die Tendenz, das Übersehene oder Vergangene zu fixieren & im Bewusstsein des unaufhaltsamen Verlusts noch einmal zu „retten“; sondern auch die kritische oder enthusiastische vorurteilsfreie Neugier & Aufgeschlossenheit für das Neue & Andere.
Bei Jean Paul war es die jüngste deutsche idealistische Philosophie & die Romantik (Fichte, Jacobi, Hegel, Hebel, E. T. A. Hoffmann); bei Baker sind es u.a. Wikipedia, Kindle & Google oder brutale Videospiele, die er mit seinem kleinen Sohn spielt – um bei aller Lektüre-Versenkung nicht die Entwicklungen der „Welt draußen“ aus den Augen & der persönlichen Erfahrung zu verlieren.
Es gibt bei Baker Sätze, Erfahrungen & Erinnerungen, deren Poesie absolut „jeanpaulinisch“ sind; z.B. wenn er von den Vorlesekünsten seiner Mutter spricht & folgende intime Taktilität des kleinen Nicholson mit seiner Mutter erinnert: „In ihrer Schulter war ein Knochen, an dem angenehm meine Schläfe ruhte; ich hatte den Eindruck, dass ich von jedem Buch etwas durch diesen Schulterknochen hörte“.
Glückserfahrungen beim handschriftlichen Transkribieren
Eine Begründung für Nutzen & Freuden des Transkribierens (von Sätzen der englischen Autorin Olivia Manning) lautet: „Bei der Abschrift sah ich mich gezwungen, jeden Bindestrich, jeden beobachtenden Blick zu berücksichtigen. Ich wurde Olivia Mannings Handlanger, (…), ihr Zuarbeiter, und praktisch sagte ich in der Zeit, die es eben brauchte, ihre Worte aufs Papier zu fädeln, zur ihr: Wohin du auch gehst, ich folge dir. Eine solche Arbeit ist auf nützliche Weise demütigend, weil sie einen in die dritte Klasse zurückversetzt, als man Sachen von der Tafel abschrieb und auf die kleine Bootsform im letzten Strich des kursiven großen >B< achten musste, aber sie ist nicht mechanisch oder phantasiehemmend, weil der Transskribent zwischenzeitlich heimlich seinen eigenen nadelgestreiften Gedanken nachhängen kann“. Diese Passage ist nicht allein wegen ihrer geistigen Sensibilität erstaunlich, sondern sprachlich auch genial wegen den Formulierungen „ihre Worte aufs Papier fädeln“ & „ seinen eigenen nadelgestreiften Gedanken nachhängen“.
Allein in seinem ersten Teil, der autobiographische Erinnerungen versammelt, habe ich mir eine Reihe von hinreißend formulierten Ein- & Ansichten – seinem Beispiel folgend – kollationiert. Es macht mir Spaß, sie hierher zu setzen, um mein Vergnügen an diesem bedachtsamen Prosaisten der alltäglichen Welt & der in ihr vorhandenen Dinge zu begründen:
Über einen oft begangenen Weg seiner Kindheit: „Manche Abschnitte des Gehwegs bestanden aus gestaltetem Beton, in den Fugen geschnitten waren, damit er sauber brach, sollte ein wachsender Baum es von ihm verlangen“. (Wie wunderbar schlüssig hier das harmonische Zusammenspiel aus vorauskalkulierender menschlicher Intelligenz & Bedürftigkeit eines Baumes im Verlauf seines Wachstumsprozesses sprachlich fixiert wird!)
Über einen Fledermaus-Drachen, der sich von der Halteleine gerissen hat; „Weit jenseits der Culver Road erfuhr der Drache auf einen Schlag die Wahrheit: Er warf sich wie gestoßen oder erschossen ein paar Meter zurück, und seine Fledermausflügel flatterten wie schlaffe Segel, und dann sauste er aus dem Himmel in Bäume“.
Ohrstöpsel-Erkenntnisse & Meditationen auf einer Müllkippe
Meditative Beobachtungen & Glückserfahrungen auf einer öffentlichen Müllkippe: “Eine der Freuden macht hier das Werfen aus: Heute habe ich jede Tüte aus dem Unterarm heraus geworfen, so dass sie einen letzten, vielfarbig wirbelnden Moment in der Luft hatte, bevor sie in die Verdichtungsgrube fiel“. (Kursivierung von mir)
Nachdenklichkeit beim Glasbruch im Container: „Es ist eine Erleichterung, wenn die Flaschen zerbrechen: Zerbrechen ist merklich weniger laut als intaktes Klirren. Warum? Vielleicht weil etwas von der kinetischen Energie durch das Zerbrechen verbraucht wird und es keine zerbrochenen inneren Flaschenhohlräume gibt, die den ausstrahlenden Lärm ersticken“.
Ohrstöpsel-Erkenntnisse: “ Man braucht eine gute Abdichtung. Löst man den Daumen von einem hineingestopften Stöpsel, stößt das Trommelfell einen winzigen, stummen Schmerzensschrei aus, wie ein Wort auf Arabisch. Dann weiß man, dass man eine gute Abdichtung hat“.
Über den Stil des berühmten englischen Historikers Gibbon: „ jene eigenartige Schaufensterauslage aus Teetassen und Sarkophagen“.
Und noch zwei aufgelesene & transkribierte Passagen Bakers, als Beispiele für den Humor seiner Prosa & deren Metaphorik: beim Abenteuer im Umgang mit einem Lesegerät: „dann zwang ich mich aus einem Pflichtgefühl heraus, das Buch auf dem Kindle 2 zu lesen. Es war wie der Wechsel aus einem Mini Cooper in einen weißen 82er-Impala mit kaputten Stoßdämpfern.“
In einem literarischen Ritornell, bei dem jede der rund hundert Mementos mit den zwei Wörtern „Eines Sommers…“ beginnt, findet sich eine besonders komische: „Eines Sommers ging ich mit zwei Frauen, die Harfe spielten, einen neuen Film namens Der Stadtneurotiker ansehen, Der einen Harfenistin gefiel er nicht, der anderen Harfenistin gefiel er überhaupt nicht, mir aber gefiel er sehr“.
Once more Jean Paul (in Maine)
Um meine Jean-Paul-Allusion abzurunden: Nicholson Bakers Buch (wie immer von Eike Schönfeld als seinem kundigen Synchronsprecher übersetzt) heißt im Englischen „The way the world works“. Der deutsche Verlag hat den lakonischen Titel nicht übersetzt, sondern ihm den Titel gegeben, den Baker für sein ewig nicht geschriebenes Buch projektiert hatte: „So geht´s“ – offenbar gemeint als Titel einer „Gebrauchsanweisung“. Im Deutschen aber wird Bakers Utopie nun als erfüllt behauptet. The way the world works. Ebenso geschah es mit Jean Pauls letztem literarischem Vorhaben, in dem er sich noch einmal humoristisch auf die unterschiedlichste Art „austanzen“ wollte. Er wollte es „Wundertüte“ nennen, konnte sie aber nicht mehr füllen. Postum haben seine Erben unter diesem vom Autor nicht mehr realisierten Projekt-Titel nur einige späte verstreute Artikel etc. herausgegeben.
Wolfram Schütte
Nicholson Baker: So geht´s. Essays. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag , Reinbek bei Hamburg, 2015. 379 Seiten. 24,95 Euro.