Geschrieben am 24. April 2010 von für Bücher, Crimemag

Nicolai Lilin: Sibirische Erziehung

Erziehung zum guten Verbrecher?

Nicolai Lilin wurde 1980 in der Stadt Bender in Transnistrien (Region Moldawien) geboren. Er lebt seit sieben Jahren im piemontesischen Cuneo in Italien, wo er ein Tätowierstudio betreibt. Sibirische Erziehung ist sein erster, autobiografischer Roman mit den Schwerpunkten Kindheit und Jugend. Lilins zweiter Roman um seine Zeit als Soldat in Tschetschenien ist beim Suhrkamp Verlag in Vorbereitung. Der Autor ist Abkömmling der sibirischen Urki, eines archaischen, mafiaähnlichen Kriminellen-Clans. Ein Kauftipp vom Krimibuchhändler unseres Vertrauens, Christian Koch.

Nicolai Lilin erzählt seine eigene Lebensgeschichte, eingebettet in die Geschichte der Urki. Diese verbrecherischen Clans bildeten schon unter der Herrschaft der Zaren eine eigene, autonom anmutende Welt. Sie wurden unter Stalin massiv verfolgt und in den Dreißigerjahren zwangsweise von Sibirien ins transnistrische Grenzgebiet umgesiedelt. Lilin beschreibt das Aufwachsen in Familien, die schon immer jegliche staatliche Autorität abgelehnt haben. Eine Welt voller eigener Gesetze, Regeln und Ehrbegriffe. So mutet manches davon konservativ bis alttestamentarisch an, anderes erinnert dagegen eher an modernste Zusammenlebensregeln der heutigen linken Berufsautonomen. Und genau hier offenbaren sich auch gleich exemplarisch die Stärken und Schwächen von Sibirische Erziehung. So abstoßend zum Beispiel die geringe Wertschätzung von Menschenleben oder die Sichtweise auf Homosexualität von Seiten der Urki ist, so faszinierend ist dennoch das Eintauchen in die uns vollkommen fremde Welt des sogenannten „ehrbaren Verbrechens“.

In einem manchmal märchenhaft anmutenden Ton ist dort Platz für beeindruckende Schilderungen, die an eine Mixtur aus Tom Sawyer/Huckleberry Finn und Jacques Mesrine erinnern. Die Sorglosigkeit vor Gefängnisstrafen, die Bedeutung und Geschichte der traditionellen Tätowierungen der Urki sowie deren Verhältnis zu Waffen machen Sibirische Erziehung lesenswert. Nicht zu vergessen die eigene Sprache der Urki. So sind es nicht nur eigene Begriffe, sondern auch Satzbau und sprachliches Beiwerk, das ihre Kommunikation „abhörsicher“ macht.

Das ist das große Plus von Nicolai Lilins Buch: das Sichtbarwerden und Erklären einer schattigen Parallelwelt. Und somit darf man auch gespannt auf das angekündigte Nachfolgewerk sein. Denn warum ein dem staatlichen Gesetz so abgewandter Mensch wie Lilin sich nur wegen eines Mahnbescheides des verhassten Militärs zur Musterung meldet und dann natürlich sofort eingezogen wird, bleibt nebulös wie nur irgendetwas. Dann werden hoffentlich auch die Fragen nach Lilins Abwendung vom Leben als Urki und seiner Auswanderung nach Italien beantwortet.

Fazit: Sibirische Erziehung ist als Buch auch beispielhaft für die neue Programmstruktur des Suhrkamp Verlages im Genre des Kriminalromans. Die Stärken exzellent – wie beispielsweise Don Winslow; die Schwächen wirklich schwach – wie beispielsweise Dorph/Pasternaks Der deutsche Freund.

Christian Koch

Nicolai Lilin: Sibirische Erziehung (Educazione siberiana, 2009). Roman.
Aus dem Italienischen von Peter Klöss.
Berlin: Suhrkamp 2010. 452 Seiten. 14,90 Euro.

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