Rasante Untergrundschnüffelei
– Oliver Harris hatte sich 2012 mit seinem Thriller „London Killing“ auf Anhieb einen Platz auf den Bestseller- und Best-of-Listen gesichert. Sein in dubiosen Grauzonen operierender Detective Nick Belsey ist im neuesten Band „London Underground“ meistens unter Tage im Einsatz: Im gigantischen Londoner Tunnelsystem will er eine entführte Frau retten. Eine Besprechung von Peter Münder.
Einen „hinreißenden Mistkerl“ nannte Val McDermid den zwischen allen moralischen Normen operierenden Detective Nick Belsey. Genau dieser ungewöhnliche Grauzonenhabitus macht die Faszination dieses Hedonisten aus, auf dessen Prioritätenliste das Saufen, Koksen und fachmännische Frauenflachlegen ganz oben stehen. Nichts auslassen, was lustmaximierend ist und gegen die Dienstvorschriften verstößt, ist seine Devise. Schräge Deals hat er nebenher auch noch laufen, weil er meistens völlig pleite ist. Allerdings kann Belsey trotz seines Hangs zur korrupten Kungelei mit Kleinkriminellen auch extrem verbissen gegen skrupellose Gangster ermitteln und wesentlich korruptere Vorgesetzte, die im großen Stil absahnen, mit seiner impertinenten Bockigkeit in die Raserei treiben.
In „London Killing“ war Belsey noch im noblen Hampstead als Phantomjäger unterwegs: Der untergetauchte russische Oligarch Devereux mauschelte mit Beamten in der City millionenschwere Deals aus, war aber nie zu fassen – da nistete sich der Detective einfach in der bombastischen Devereux-Villa ein und versuchte mit der neuen Identität dieses Millionärs und dessen Platinkreditkarten mal so richtig abzusahnen. Was natürlich auch nicht so richtig klappte, aber zu spannenden Verfolgungsjagden führte. Übertrieben war da jedoch der finale James-Bond-artige Showdown am Flughafen mit gigantischem Ballermannfeuerwerk, herumrasenden Pferden im Airport etc. – bei diesen Szenen hat Oliver Harris wohl schon allzu intensiv vom Ruf aus Hollywood und einer spektakulären Verfilmung geträumt.
Unter London
Jetzt nimmt uns der 36-jährige Literaturwissenschaftler und promovierte Londoner Psychologe im zweiten Thriller mit auf einen exotischen Trip in den Londoner Untergrund. Und das ist kein Tourispaziergang, denn ihm geht es um völlig neue, unbekannte Aspekte dieser Schattenwelt: Bei der Verfolgungsjagd eines mit wahnwitzigem Tempo herumrasenden Autofahrers mitten in der City verschwindet der BMW-Fahrer plötzlich in einem geheimen Tunnelzugang. Auf der Jagd nach dem Verdächtigen taucht Belsey kurzentschlossen selbst in diese faszinierende Tunnelunterwelt ab, in der es alte Luftschutzbunker, stillgelegte Poststationen, Versorgungsdepots mit Medikamenten, Putschmitteln und Champagner, Telefonzentralen und Einsatzzentralen gibt, die aus den letzten Kriegsjahren stammen. Als Belsey diese Drogen und den Schampus entdeckt, wittert er sofort den renditeträchtigen Deal und kontaktiert einen Abnehmer: Für ihn ist diese Jagd unter Tage auch eine interessante Schatzsuche. Als er in dieser geheimnisvollen Unterwelt bei Kerzenschein eine kleine Orgie mit seinem neuen Date feiern will, wird daraus jedoch ein Alptraum, denn die Kunststudentin Gemma, der er das Tunnelsystem zeigen wollte, wird entführt.
Belsey ist nun auf der Jagd nach dem Entführer, er muss aber auch seine irregulären Aktivitäten unter Tage in der internen polizeilichen Dienstmaschinerie irgendwie rechtfertigen. Belsey kann sich nach sporadischen Kontakten zum Entführer allmählich ein Bild von einem Psychopathen machen. Der scheint ein pathologischer Anhänger von Verschwörungstheorien zu sein, hat diverse Therapieversuche hinter sich und will Belsey offenbar auf geheime Tunnelsysteme hinweisen, die aus der Phase des Kalten Krieges stammen, als die Briten einen sowjetischen Atomschlag befürchteten und sich mit dem geheimen Einsatzplan „Able Archer“ in der Tunnelwelt auf diesen apokalyptischen Showdown vorbereiteten. Dazu gehörte auch ein Evakuierungsplan für die Royals, die vom Buckingham Palace über das Tunnelsystem aus London geschleust werden sollten.

U-Bahnhof als Luftschutzbunker im Zweiten Weltkrieg, London (wikimedia commons)
Dichtung und Wahrheit
Zwischen Thrillerdichtung und historischer Wahrheit, zwischen eindeutigen Fakten und spekulativen Verschwörungstheorien hat Harris diesen rasanten Tunnelfeger angesiedelt. Das Spannende daran ist, dass die meisten Details stimmen dürften: Er hatte die ersten unscheinbaren Tunneleingänge schon als Kind entdeckt und wurde nun beim Versuch, diesen geheimnisvollen Undergroundsystemen auf den Grund zu gehen, von den Londoner Behörden, meistens mit Hinweisen auf irgendeinen Geheimstatus, abgeblockt.
Da der Plot streckenweise ziemlich verwirrend ist, immer neue Schauplätze mit bizarren Verwicklungen präsentiert werden, sind die präzisen Beschreibungen historischer Zusammenhänge eigentlich faszinierender als die hektischen Action-Einschübe oder die Exkurse über unterschiedlich Therapieansätze bei Paranoiapatienten. Absolut plausibel wirkt etwa der Automatismus einer Eskalationsspirale, den Harris ganz nebenher zur Illustration des Hochschaukelns während des Kalten Krieges und der Angst vor einem Dritten Weltkrieg mit Atombombeneinsatz darstellt. Denn die akute Angst der britischen Nachkriegsregierungen vor einem sowjetischen Atomschlag resultierte im forcierten Ausbau diverser „Tunnel-Festungen“, was prompt Moskauer Befürchtungen verstärkte, in London würde man sich bereits auf einen eigenen Atomschlag gegen die Russen vorbereiten.

Map Room im Churchill Museum und den Cabinet War Rooms (Copyright © 2006, Kaihsu Tai, wikimedia commons)
War Rooms
Wer als Tourist die hinter der Downing Street liegenden 21 unterirdischen „Cabinet War Rooms“ besichtigt hat, fragte sich wohl auch, was dahinter lag: Wie waren diese Kellergewölbe, in denen die militärische Einsatzzentrale („Churchill’s wartime secret HQ“) operierte, mit anderen Regierungsämtern verbunden? Was versteckte sich sonst noch alles dahinter? Oliver Harris geht in seinem spannenden, wenn auch etwas zu überdrehten Thriller genau diesen Fragen auf den Grund und deutet an, wo die geheimen Leitstellen, Depots sowie Kommunikationszentralen von den U-Bahntunneln abzweigten und wo man heute noch fündig werden könnte. Wer nach der Tunneljagd an der Seite dieses fabelhaften Adrenalin-Junkies Nick Belsey, der seinen Cappuccino nur mit reingekipptem doppelten Wodka genießen kann, die von Harris angegebenen Studien und historischen Quellen studiert, der wird begeistert sein: Eine völlig neue Unterwelt tut sich auf, die allerdings erst noch konkret entdeckt und erlaufen werden will, weil kurze Tunneletappen nur zu speziellen Terminen (meistens für Railway-Freaks) zur Besichtigung freigegeben werden.
Peter Münder
Oliver Harris: London Underground (Deep Shelter, 2014). Roman. Deutsch von Gunnar Kwisinski. München: Blessing 2014. 446 Seiten. 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Dazu weitere Quellen und Infos: Peter Hennessy: The Secret State. Preparing for the worst. 1945-2010. Penguin 2010. 488 Seiten. 10.99,- Pfund.
Andrew Emerson: Discovering Subterranean London. Oxford: Shire Publications 2011. 80 Seiten. 6,99 Pfund.
Richard Trench & Ellis Hillman: London under London. A subterranean Guide. John Murray 1993. 240 Seiten.
Stephen Smith: Underground London. Travels beneath the City Streets. Abacus 2004. 392 Seiten. 9,99 Pfund.
Ben Pedroche: Do not alight here. Walking along London’s Lost Underground and Railway Stations. Capital History 2013. 144 Seiten. 6,95 Pfund.