Die Deregulierung der Werte
– Patrícia Melos neuer Roman „Leichendieb“ brilliert mit allen Stärken der brasilianischen Autorin, die längst ins globale Pantheon gehört – mit Witz, Intelligenz, Eleganz und dem ganz bösen Blick für den Wahnsinn der Welt. Thomas Wörtche freut sich.
Was für ein mieser Typ, dieser Ich-Erzähler ohne Namen, der eher aus Zufall als aus krimineller Energie zum „Leichendieb“ wird, der nächtens einen stinkenden Kadaver ausgräbt, um …
Seit ihrem ersten Welterfolg „O Matador“ sind Fieslinge das Lieblingssujet der brasilianischen Schriftstellerin Patrícia Melo, von der nun endlich wieder ein neues Buch im deutschsprachigen Raum greifbar ist – dem Gastland Brasilien auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober sei Dank.
„Leichendieb“ ist eine maliziöse, sarkastische und extrem unterhaltsame Geschichte aus der Grenzregion zwischen Brasilien und Bolivien, wo man mal schnell über die Grenze huscht und ein bisschen Kokain vom spanischen in den portugiesischen Sprachraum schafft. So wie der junge Mann aus reichem Haus, der unserem namenlosen Anti-Helden mit seinem Sportflugzeug fast auf den Kopf fällt, als der beim Angeln an einem Piranha-haltigen Fluss sitzt. Der junge Mann ist tot, im Flugzeug eine Tasche voller Koks, ein Handy und ein bisschen Cash. Der Fiesling, ein gefeuerter Call-Center-Aufseher aus São Paolo, der mit seiner charmanten Art dort eine junge Frau in den Tod getrieben hatte, zögert nicht: Er wirft die Leiche ins Wasser, schnappt sich Koks und Brieftasche nebst Handy und verschwindet, ohne den Unfall zu melden. Er hat ja niemanden umgebracht.
Fies, fies und fies
Und dann nimmt die Geschichte eine fiese Wendung nach der anderen, eine fiese Figur nach der anderen taucht auf und alles verwickelt sich ins Unappetitliche. Niedertracht aus Not bestimmt das Handeln – unser, pardon, Arschloch von Hauptfigur hat plötzlich Schulden beim lokalen Dealer, erschleicht sich einen Job bei der Familie des toten jungen Mannes und erpresst schließlich die einzig rundum nette Figur des Buchs, die Mutter des Toten, die aus Gram, ihren Sohn nicht anständig begraben zu können, bereit ist, für die angebliche Leiche 200.000 $ zu bezahlen. Und diese Leiche muss irgendwo herkommen, und sei’s vom Friedhof.
Niedere Instinkte …
Patrícia Melo inszeniert dieses bewusste Gegenstück zu Robert Louis Stevensons „The Body Snatcher“ als Parcours der allerniedersten Instinkte. Der Leichenraub, der bei Stevenson wenigstens dadurch legitimiert wurde, an den Leichen medizinische Experimente zu Nutz und Frommen der Menschheit durchzuführen, ist bei Melo nur noch Ausdruck von Niedertracht und Indolenz. Und diese Niedertracht ist so peinlich abgefuckt, so selbstgerecht, so voller Rechtfertigungsrhetorik und alibihaftem Selbstekel, dass sie jeder tragischen Größe entbehrt und menschliche Verkommenheit in ihrer ganzen giftig-schwarzen Lächerlichkeit erscheinen lässt.
Denn wie der Namenlose (selbst sein Dealer nennt ihn nur „Porco“, Schwein) und seine Partnerin im Widerlichen, die Ex-Polizistin und Leichenschauhaus-Chefin Sulamita, von einer Untat zur nächsten schliddern, das ist sehr komisch, wenn auch nicht lustisch. Und typisch für Melos Art zu schreiben sind die Subtexte: Der amazonische Umgang mit Leichen, Obduktionen und Rekonstruktionen etwa ist als wunderbare Parodie auf den ganzen technikgläubigen CSI-Unfug und das Gewese um True-Crime und den ubiquitären Forensik-Hype gestaltet.
Die brasilianischen Verhältnisse – ein korruptes Polizeisystem, Verlotterung staatlicher Zuständigkeiten und Kompetenzen – sind ein idealer Nährboden für die Geschichte, die durchaus auch globaler lesbar ist: Sie dekliniert die Deregulierung von „Werten“ bis zum Ende durch. Und es ist nicht gesagt, dass das ein bitteres Ende sein muss.
Patrícia Melo, die inzwischen in der Schweiz lebt, gehört zu den ganz wichtigen Stimmen nicht nur der brasilianischen Literatur. Gut, dass „Leichendieb“ uns daran wieder einmal erinnert, wie brillant Thriller sein können.
Thomas Wörtche
Patrícia Melo: Leichendieb
(Ladrão de Cadáveres, 2010). Roman. Deutsch von Barbara Mesquita. Stuttgart: Klett-Cotta/Tropen 2013. 203 Seiten. 18,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Melo bei kaliber.38, hier und hier.