Geschrieben am 17. November 2012 von für Bücher, Crimemag

Paul-Hermann Gruner: Wunderlich und die Logik

Wittgenstein und die Stubentiger

– Paul-Hermann Gruners fulminanter Roman  über alles, was in Darmstadt und der sonstigen Welt der Fall ist. Von Bruno Arich-Gerz

Katzen und Kriminaldelikte, da kommt’s einem eigentlich hoch. Nicht nur, weil so ziemlich jeder Stubentiger seinen Hang zum serial killer an Mäusen auslebt. Auch das Rollenfach Opfer und sogar den Rang der Ko-Ermittler hat sich das Katzenvolk in der U- und E-Literatur längst erobert: Man denke nur an Akif Pirinçci und Rita Mae Brown, oder, Stichwort Opfer, an die sadistischen Katzenquälereien des gestörten Randy Lenz in David Foster Wallaces betörendem Wunderwerk Infinite Jest.

Mit einem Katzenkriminaldelikt macht auch Paul-Hermann Gruner seinen 500-Seiter Wunderlich und die Logik auf. Erst eine, dann zwei, schließlich auch die dritte Rassekatze der Maria Immaculata Freifrau Zeiss von Bülenhof-Ratheim werden in dieser Reihenfolge gepflöckt, geköpft und gehäckselt. Wenn der bloße Name der Aristokratin bereits andeutet, dass bei Gruner alles mit einem Korn Salz zu nehmen ist, dann streut der mit der Aufklärung der Katzenmassaker beauftragte Privatermittler und Ich-Erzähler Wolf Wunderlich selbiges nochmal tüchtig in sämtliche Wunden, die Trivialitätsmiezen wie Felidae und Mrs. Murphy der Untergattung cat crime inzwischen mit ausgefahrenen Krallen geschlagen haben.

Wunderlich und die Logik ist eher ein Antidot gegen bescheuerte Katzenkrimis denn selber einer. Doch in die Sparte Spannungsliteratur – also Krimi unabhängig vom Katzengehalt – will das Buch nicht so recht passen. Auftragsgemäß wird es hier aber in der Rubrik CrimeMag rezensiert, also muss ein Korn Kritik erlaubt sein.

Kein Wittgenstein-Programm

Da ist etwa die Wittgenstein-Spur, die zwischendrin gelegt wird, weil einer der Verdächtigen sich als Studierender der Philosophie verdingt. WITT, GEN und STEIN lauten die wahlweise bei oder in den gemeuchelten Katzen gefundenen, weil vorher dort in Form von Papierkritzeleien deponierten einsilbigen Botschaften. Die wiederum mögen zu allerlei Spekulationen über die Verfasstheit der Welt als (oder in der) Sprache sowie deren Grenzen Anlass geben, welche auch und gerade einem spannungsliterarischen Sprachstück gut zu Gesicht stünden. Philip Kerr hat in A Philosophical Investigation (1992) durchexerziert, wie so etwas aussehen kann, und auch Gruners Wunderlich flirtet eine Zeitlang mit der Spezialdisziplin des britisch-österreichischen Denkers und Krimifreundes Ludwig Wittgenstein, die dem Roman immerhin die eine Hälfte seines Titels verleiht. Doch anders als bei Kerr ist Wittgenstein bei Gruner nicht Programm, sondern irgendwas zwischen reinem Dekor und red herring: wirklich zentral ist der philosophische Diskurs nicht. Und auch sonst fehlt dem Krimiplot, betrachtet man ihn durch die gestrenge Brille des Sachbearbeiters von der Kriminalliterarischen Prüfungsanstalt, ein wenig das Innovativ-Überraschende.

Die Welt ist alles, was der Fakt oder die Fantasmagorie ist

Dafür bietet Wunderlich und die Logik ein fröhliches Crossover durch Genres und unterschiedlich wahrscheinliche Weltzustände. Mal spielt es im faktischen Darmstadt, der Heimatbasis des Private Eye, mal in einer Wellness-Oase im Schwarzwald, dann in hippen Szenekneipen in Prenzlauer Berg oder über den Dächern einer südfranzösischen Kleinstadt, wo Schnüffler Wunderlich dem Sohn seiner Auftraggeberin, ihrer Hauswirtschafterin sowie einer dunklen Gestalt mit Kapuze und dicken Schalldämpfern auf dem Schießeisen nachstellt. Daneben gibt es eine Reihe von Tag- und Nachtträumereien zu bestaunen, die die Schauplätze des Geschehens auf das Angenehmste verfremden und zu den eigentlichen Kostbarkeiten des Romans zählen. So taucht der zunehmend atemnotgeplagte Wunderlich unter der schmucken Fünfzehnmeteryacht, die sich die Freifrau im Gartenpool ihres Anwesens in treuem Angedenken an ihren verblichenen Gatten hält wie andere eine Überraschungseier-Sammlung, ab in einen Unter(wasser)bewusstseinszustand, den auszukleiden dem ohnehin zu fantasmagorischen Attacken neigenden und in punkto enzyklopädisches Wissen richtiggehend hyperaktiven Gruner eine wahre Freude ist. Durch die Schiffsbäuche der Andrea Doria, der Titanic und der im Hafen von Manhattan Schlagseite erleidenden Normandie geht die wilde Fahrt: Und zwar kurz vor knapp, denn der Frachter auf Kollisionskurs sowie der Eisberg und das Löschwasser der New Yorker Feuerwehr warten bereits, und Walter Matthau mimt in aller Seelenruhe die ortskundige Begleitung. Das ist dem Fortschreiten der Handlung natürlich in keinster Weise zuträglich, wirkt dafür aber sehr pynchonesk und man denkt zwangsläufig an die Irrsinnsfahrten des kopfüber in der Kloschüssel verschwindenden Tyrone Slothrop aus Gravity’s Rainbow. Und das Erstaunliche ist: Gruner kann mit Pynchon mithalten. Ohne Anstrengung, als sei es eine der ganz leichten Übungen.

Darmstädter Kanon

Wenn die Fabulierlust und das dazugehörige Können schon bemerkenswert sind, dann ist Paul-Hermann Gruner zugleich ein gesegneter Stilist, der seine Sprachmuskeln schön locker hält und damit – das eine bedingt das andere – schlagfertig bleibt. Keine Floskel trübt den Erzählduktus und fast kein Stereotyp verdirbt einem selbst in der maximal klischeeträchtigen Disziplin „Kopulationsgeschehen beschreiben“ die Leselust. Auch keine einzige abgedroschene Metapher findet sich: und wenn doch, dann nicht, ohne von den Herren Wunderlich und Gruner hochgenommen zu werden. Schließlich haben auch die Dialoge Drive und konturieren mit wenigen Worten gekonnt, was zwischenmenschliche Sache ist und wer wie aussieht. Auftritt Wunderlich, seine Eroberung Sumatra und Massimo, der Kfz-Mechaniker seines Vertrauens in einem Darmstädter Café:

„Da ist er“, sagt mein Mund nah an Sumatras Ohr. Massimo sitzt wie gewohnt auf der Seite aus Holz und Stoff im Vollendeten Glück. Er thront vorfreudig auf dem mittleren der gustavianischen Bettsofas, auf dem Holztischchen stehen schon Wasser und Coretto. Rechts und links neben sich hat er die Plätze freigehalten.

„Wirklich ein bisschen DeVito“, bestätigt Sumatra.

„Er wird dich lieben“, rutscht es mir raus.

Sie dreht den Kopf.

„Das tust Du doch schon.“

„Das wird Massimo nicht beeindrucken. Aber er wird sich an die Reihenfolge halten.“ (429)

Darmstadt ist auch die Messlatte, mit der es diesen Zwitter aus romangewordener Katzenkrimikritik, enzyklopädischem Roman und flottem Gattungsmix wohl am ehesten auszumessen gilt. Das südhessische Provinzstädtchen nennt seit großherzoglichen Zeiten eine rege Künstlerszene sein eigen: teils bestehend aus Hinzugezogenen, teils aus Einheimischen, die sich hier scherzhaft Heiner nennen. Dazu wartet es auch im literarischen Feld durch das eine oder andere Highlight auf. Die deutsche Sektion des PEN hat hier seine Kommandozentrale ebenso wie die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Außerdem gibt es jede Menge Regionalliteraten, im Segment Heiner-Crime etwa Michael Kibler und Christian Gude. Und es gibt einen kleinen Kanon derjenigen, die es zu überregionaler Beachtung gebracht haben: der Expressionist Kasimir Edschmid, Karl Krolow und natürlich der Dramatiker Niebergall mit seiner in breitestem Hessisch verfassten Lokalposse Datterich.

Es mag sein, dass Paul-Hermann Gruner das jetzt peinlich ist: Immerhin verdingt er sich als Redakteur der Lokalpostille Darmstädter Echo und die Kollegen verdrehen einem die als Kompliment gemeinten Kritikerurteile schon mal gerne ins Gegenteil. Dennoch muss es gesagt werden: Vielleicht nicht als Krimi, in jedem Fall aber als Fabuliermeisterwerk aus der Stadt mit dem Verdauungsorgan im Namen gehört Wunderlich und die Logik ab sofort mit zu diesem Kanon.

Bruno Arich-Gerz

Wittgenstein-Bild: wikimedia-commons.

Paul-Hermann Gruner: Wunderlich und die Logik. Roman. Darmstadt: Justus von Liebig Verlag 2012. 500 Seiten. 24,80 Euro.

Bruno Arich-Gerz hat sieben lange Jahre an der Technischen Universität Darmstadt verbracht und vorher über Thomas Pynchon promoviert. Mit Darmstadt verbindet ihn außerdem die Liebe und der Luftkrieg beziehungsweise dessen Oral History (Info).

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