Hardboiled und herzzerreißend
Fast dreißig Jahre nach der amerikanischen Erstausgabe ist jetzt auch Pete Dexters Debutroman „Gods Pocket“ endlich auf Deutsch erschienen und erweist sich als weitere grandiose (Neu-) Entdeckung dieses hierzulande lange Zeit unbekannten Gesellschaftschronisten. Von Karsten Herrmann
„God’s Pocket“ ist der Name eines herunter gekommenen Arbeiter-, Trinker- und Verlierer-Viertels in Philadelphia, in dem die Leute unter sich bleiben und „eher einen Bus nach Kuba nehmen“ als in das Stadtzentrum zu fahren. Aus dessen Mitte stammt der junge und allseits unbeliebte Leon Hubbard, der eines Tages erschlagen im Staub einer Baustelle liegt. Zuvor hatte er seinen eigentlich durch und durch stoischen schwarzen Kollegen Lucien mit seinem immer locker in der Tasche sitzenden Rasiermesser bis aufs Blut provoziert. Gegenüber der Polizei wird dieser Totschlag vom Vorabeiter Peets kurzerhand als Unfall deklariert, denn: „Es war, als sähe man bei etwas zu, nur weil man absolut nichts dagegen machen konnte. Etwas, das zu Ende gebracht werden musste, weil die Zeit dafür reif war.“
Die einzige, die dies Auffassung nicht teilt, ist Leons hübsche Mutter Jeanie, deren Leben bereits „mehr traurige Kapitel hatte als das Alte Testament“. Ihr Beharren auf der Wahrheit bringt die Mafia und den Star-Kolumnisten Richard Shellburn ins Spiel und löst eine Spirale der Gewalt und der tragischen, aber auch tragisch-komischen Verwicklungen aus.
Pete Dexter zeichnet in seinem Debutroman ein ebenso vielschichtiges wie düsteres Porträt des Stadtviertels „God’s Pocket“ und seiner Bewohner. Der frühere Journalist ist dabei ganz nahe dran an seinen Figuren, die alle mehr oder minder schwer vom Leben versehrt sind und die mit nur noch wenig Hoffnung nach dem letzten Zipfel Glück greifen. Eine heimliche Hauptrolle nimmt so Leons Stiefvater Mickey ein, der verzweifelt alles richtig machen will und dem doch alles in den Händen zerrinnt: „Nach Jeanie wird nichts mehr kommen, es sei denn, er bezahlte dafür.“
„God’s Pocket“ ist ein atemberaubend gut erzählter Roman, der dem bereits im ambitionierten Münchener Liebeskind-Verlag erschienenen und 1988 mit dem National Book Award ausgezeichneten Nachfolger „Paris Trout“ und auch dem jüngsten „Train“ in nichts nachsteht. Dexters Romane sind von einer düsteren Wucht und von den Motiven des alltäglichen Rassismus und der Gewalt in den Vereinigten Staaten bestimmt. Sie sind dabei durch und durch lakonisch und „hardboiled“ und in der heroischen Tragik ihrer Helden auch zugleich Herz zerreißend. Im Gegensatz zu seinen späteren Romanen blitzt in Dexters „God’s Pocket“ auch noch ein staubtrocken-makabrer Humor auf – doch das Lachen bleibt dem Leser schon hier im Halse stecken.
Karsten Herrmann
Pete Dexter: God’s Pocket.
Übersetzt von Jürgen Bürger & Kathrin Bielfeldt
München: Liebeskind 2010. 367 Seiten. 22 Euro