Geschrieben am 11. Januar 2012 von für Bücher, Litmag

Peter Ackroyd: Venedig / Predrag Matvejević: Das andere Venedig

Wasser, überall Wasser

– Ein Engländer und ein Kroate erklären uns Venedig. Von Carl Wilhelm Macke.

Gibt es eine Stadt, über die mehr Bücher geschrieben worden sind als Venedig? Geht man in eine Buchhandlung oder surft im Internet herum auf der Suche nach Büchern, die der Lagunenstadt gewidmet sind, wird man überschwemmt von Angeboten. Unendlich viele Reisebücher gibt es, historische Abhandlungen, Anthologien, Romane, in denen noch die kleinste Gasse am Tag, in der Nacht, bei Hoch- und Niedrigwasser beschrieben wird. Da muss man schon so gut schreiben können und über ein so fundiertes Wissen wie Peter Ackroyd verfügen, um etwas wirklich Neues und Spannendes über Venedig zu berichten. Nimmt man seinen dicken Wälzer zur Hand, dann beginnt die Neugierde bereits bei dem Inhaltsverzeichnis. Es beginnt tatsächlich bei „Adam und Eva“, im Fall von Venedig im 1. Jahrhundert n. Chr. mit der Beschreibung uralter Tonscherben. Wir lernen ein Venedig kennen, das noch nicht mit dem Festland verbunden war. „Wasser, überall Wasser.“

Weiter geht es mit der Geschichte des heiligen Markus, der bis heute Schutzpatron der Stadt ist. Nichts lässt Ackroyd aus, um zu erklären, warum Venedig einen so großen Sog auf Reisende aus aller Welt ausübt. Venedig und sein Gefängnis, seine Geheimnisse, die Tradition der Kaufleute, die Geschichte der Gondeln und Glocken, das Licht, den Karneval, die Musik, die Kunst. Natürlich schreibt er auch über die Kirchen und die Priester in Venedig. Auch wenn man die Zahl der großen und kleinen Kirchen, der Kapellen und Kreuze in der Stadt nicht zählen kann, haben die Venezianer nicht den Ruf besonders fromm, geschweige denn „pfaffenfreundlich“ zu sein. „Die Venezianer schätzten den Papst nie besonders und hatten auch nicht viel für den Katholizismus übrig, so wie er außerhalb des eigenen Territoriums praktiziert wurde.“ Andererseits existiert in dieser Stadt eine uralte Vorliebe für Geister, Gespenster und andere okkulte Wesen. „Es gibt Geschichten von kreischenden Totenschädeln, von Statuen, die zum Leben erwachen, von merkwürdigen Kreaturen der Tiefe.“

Ein in die Mitte des Buches eingefügter Bildteil zeigt, wie ungeheuer reich die Maltradition dieser Stadt ist: Tizian, Canaletto, Bellini, Tintoretto, Tiepolo, Carpaccio. Die einen schwelgten in sinnlichen und dekorativen Effekten, während die anderen die narrative Darstellung bevorzugten. Diese überragenden Meister der Malkunst haben jedoch nur wenige Nachfolger in den späteren Jahrhunderten gehabt. Venedig ist mit den Jahren immer mehr zu einem einzigen Museum geworden, in dem eine große Vergangenheit ausgestellt ist – aber als eine lebendige, sich immer auch verändernde Stadt gilt es schon längst nicht mehr. Nur für die relativ kurze Zeit der Kunstbiennale ahnt man in Venedig, dass es auch so etwas wie die Moderne gibt. In der großen Liebeserklärung von Peter Ackroyd an Venedig findet man zwar viele Ausführungen über die Tradition in dieser Stadt, aber nirgendwo gibt es eine Anmerkung über die Krise und Stagnation des heutigen Kulturlebens.

Venedig und das andere Venedig

Trotzdem: Ein besseres, vor allem besser geschriebenes Buch über Venedig in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit, einschließlich seiner vielen dunklen Ecken und Geheimnisse, findet man derzeit nicht auf dem Buchmarkt. Es hat nur einen großen Nachteil: Das Buch ist einfach zu groß und zu schwer, um es mitzunehmen auf eine Tour nach und durch Venedig.

Da bietet es sich vielleicht an, auf ein sehr viel handlicheres Buch hinzuweisen, mit dem man auch einen neuen Blick auf Venedig werfen kann. „Das andere Venedig“ von Predrag Matvejević ist eine wunderbare Verführung, das andere, versteckte, wenig bekannte Venedig kennenzulernen. Das Buch von Matvejević ist bei Weitem nicht so angefüllt mit Details zur Geschichte Venedigs und sein Illustrationsmaterial ist mehr als dürftig im Gegensatz zur üppigen Gestaltung der Venedig-Biografie von Ackroyd. Aber dafür ist es poetischer, persönlicher als der dicke Wälzer des englischen Literaturwissenschaftlers. „Venedig und das andere Venedig liegen doch nebeneinander, wenn auch nur in der Erinnerung oder in Träumereien“, heißt es an einer Stelle bei Matvejević. „Auf das erste blickt jeder, und jeder begehrt es. Vom zweiten nimmt kaum jemand Notiz, und keiner trauert ihm nach. Aber das eine existiert nicht ohne das andere und kann auch nicht bestehen.“

Der Engländer Peter Ackroyd und der Kroate Predrag Matvejević kennen wie nur wenige das eine und das andere Venedig. Beide sind sie verzaubert von dieser Stadt, verschließen aber auch beide die Augen vor den großen Überlebensproblemen von Venedig, das von den täglichen Touristenmassen regelrecht stranguliert zu werden droht. Ist es da eine Ermutigung oder ein Verzweiflungsschrei, wenn Ackroyd sein Buch mit einer Devise der venezianischen Stadtverwaltung enden lässt: „Venezia deve vivere“ – Venedig muss leben …?

Carl Wilhelm Macke

Peter Ackroyd: Venedig. Die Biographie. Aus dem Englischen von Michael Müller. München: Knaus Verlag 2011. 591 Seiten. 39,99 Euro. Zur Leseprobe geht es hier.
Predrag Matvejević: Das andere Venedig. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer. Wieser Verlag 2007. 162 Seiten. 18,80 Euro.

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